Artikel: Erdogans Angst

In der Türkei trifft die Repression die kurdische Frauenbewegung mit besonderer Härte

Von Ulla Jelpke (erschienen in Feminismus – Beilage der junge Welt vom 08.03.2017)

 

Ausgerechnet von den als besonders rückständig geltenden kurdischen Landesteilen im Südosten der Türkei ging in den letzten Jahren ein für den Mittleren Osten beispielloser Aufbruch der Frauenbewegung aus. Dies spiegelte sich in den politischen Strukturen der Region wider. So wurden bereits bei den Bürgermeisterwahlen 2009 in Kurdistan mehr Frauen an die Spitze von Städten gewählt als in der ganzen übrigen Türkei. Nach den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 galt in den mehr als 100 Städten und Kommunen, die von der linken kurdischen Demokratischen Partei der Kommunen (DBP) regiert wurden, sogar die Regel einer Kobürgermeisterschaft aus jeweils einem Mann und einer Frau. Auch alle Ausschüsse der Stadtverwaltungen sowie die in vielen Städten geschaffenen Volksräte auf Straßen- oder Bezirksebene wurden jeweils von einer Doppelspitze geleitet. Darüber hinaus ist für die Räte eine Frauenquote von 40 Prozent vorgeschrieben. In allen DBP-Kommunen wurde zudem ein nur mit weiblichen Mitgliedern besetztes Referat eingerichtet, das über alle Frauen betreffenden Angelegenheiten bestimmt.Dazu kamen Regeln, die etwa besagten, dass ein Teil des Lohnes eines städtischen Angestellten, der seine Frau geschlagen hat, direkt an die Ehefrau ausgezahlt wird. Dass Frauen, die vormals an Küche und Haus gefesselt waren, nun plötzlich gleichberechtigt öffentliche Ämter einnahmen, wirkte in die Gesellschaft und die Familien zurück.

Staatsterror

All diese Errungenschaften sind nun durch die erneute Eskalation des Krieges gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK und die Selbstorganisierung der Bevölkerung in den Städten vor rund eineinhalb Jahren sowie die massive landesweite Repression nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 bedroht. Während wochen- und monatelanger Ausgangssperren wurden im vergangenen Jahr ganze Stadtviertel in Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung wie Diyarbakir-Sur, Sirnak, Silvan, Nusaybin, Cizre, Silopi, Hakkari und Yüksekova zu Ruinen geschossen, Hunderte Zivilisten getötet und Hunderttausende vertrieben. Gezielt wurden weibliche Aktive ermordet, unter ihnen die Kovorsitzende des Volksrats von Silopi, Pakize Nayir, das DBP-Parteiratsmitglied Seve Demir und das Mitglied des Kongresses der freien Frauen (KJA), Fatma Uyar.

Dutzende zuvor von der DBP regierte Städte und Gemeinden in den kurdischen Landesteilen der Türkei wurden in den letzten Monaten unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden für abgesetzt erklärt und viele von ihnen inhaftiert. Von den derzeit etwa 80 Bürgermeistern in Untersuchungshaft dürften etwa die Hälfte Frauen sein. Unter ihnen ist auch die Bürgermeisterin der Millionenstadt Diyarbakir, Gültan Kisanak. Wegen »Propaganda für eine terroristische Organisation« verlangt die Staatsanwaltschaft 230 Jahre Haft gegen sie.

Als Statthalter wurden in den Städten, in denen die DBP und ihre türkeiweit agierende Schwesterpartei HDP bei den Kommunalwahlen Rekordergebnisse zwischen 55 und 90 Prozent eingefahren hatten, AKP-nahe Gouverneure oder Vizegouverneure eingesetzt. Zu deren ersten Amtshandlungen gehörte die Schließung der zahlreichen in den letzten Jahren eröffneten Einrichtungen für Frauen. Auch Kooperativen, die mit dem Ziel aufgebaut worden waren, Frauen ökonomische Unabhängigkeit zu ermöglichen, wurden dichtgemacht.

Vereine geschlossen

Neben Tausenden DBP-Mitgliedern wurde auch die Kovorsitzende der Partei, die frühere Parlamentsabgeordnete Sebahat Tuncel, während einer Demonstration gegen die Verhaftung kurdischer Parlamentsabgeordneten im November 2016 selbst festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Gegen die bekannte Feministin, die 2007 aus dem Gefängnis heraus erstmals ins Parlament gewählt worden war, hat die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von 150 Jahren beantragt.

Unter Hunderten Nichtregierungsorganisationen, die auf der Grundlage des seit dem Putschversuch im Juli geltenden Ausnahmezustandes von Präsident Recep Tayyip Erdogan faktisch verboten wurden, befindet sich auch eine Reihe von Frauenvereinigungen insbesondere in den kurdischen Landesteilen. So stürmte die Polizei am 12. November 2016 in Diyarbakir das Gebäude des Kongresses der Freien Frauen (KJA), der Dachorganisation der kurdischen Frauenbewegung in der Türkei. Ayla Akat, KJA-Vorsitzende und frühere Abgeordnete, war bereits eine Woche zuvor während einer Protestak­tion festgenommen worden. Sie befindet sich bis heute in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir forderte in ihrer Anfang Februar vorgelegten Anklageschrift gegen sie eine Haftstrafe zwischen 30 und 95 Jahren unter anderem wegen »Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung«.

Geschlossen wurde im November per Dekret neben zahlreichen anderen oppositionellen Medien auch die kurdische Nachrichtenagentur für Frauen, JINHA. Sie war 2015 von sechs Journalistinnen gegründet worden. In der Selbstbeschreibung von JINHA hieß es, man biete »tägliche Nachrichten von und über Frauen aus Kurdistan, der Türkei und der Welt durch reine Frauenteams«. Nach der Schließung wurde das JINHA-Redaktionsbüro von der Polizei versiegelt. Mehrere Mitarbeiterinnen der Agentur wurden inzwischen festgenommen, auch ihnen drohen Haftstrafen wegen »Terrorpropaganda«.

Reorganisation

Unter dem Namen »Bewegung der Freien Frauen« (TJA) organisierten sich die Kurdinnen unterdessen neu. Man werde weiter »im Sinne der Frauenbewegung aktiv« sein, kündigte KJA-Mitglied Fatma Kasan an. Sie sieht die Frauenbewegung als vorrangiges Ziel der Repression der AKP-Regierung. Die Vermutung ist berechtigt, denn Feministinnen sind nicht nur ideologisch die Avantgarde der kurdischen Befreiungsbewegung, sondern auch ganz praktisch. Sie garantieren für deren fortschrittliche Ausrichtung. Denn die Frauen wissen, dass sie im Falle von schmutzigen Kompromissen mit reaktionären Kräften zur Lösung der kurdischen Frage wie unter dem feudalen Stammesführer Masud Barsani in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak das Nachsehen hätten.

Doch auch in der Westtürkei wirkt sich schon die bloße Existenz der kurdischen Frauenbewegung positiv aus. »Im Westen des Landes sind wir Frauen stets in der Opferrolle«, meinte die Feministin Arzu Demir, Autorin mehrerer Bücher über die kurdische Befreiungsbewegung, im Herbst 2015 im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung und fügte hinzu: »Ohne die kurdischen Frauen und ihren Kampf um Gleichberechtigung wäre die Situation noch viel dramatischer.« Zugleich stellte Demir fest, dass die Stärke der kurdischen Frauenbewegung letztlich auf die Politik der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zurückzuführen ist. Seit den 1990er Jahren schlossen sich unzählige Frauen der PKK-Guerilla an und bildeten eigene Einheiten. Für sie sei dies eine Alternative zum »klassischen Rollenvorbild«, so Demir. Zudem änderten Männer ihr Verhalten »signifikant, wenn Frauen plötzlich eine bewaffnete Macht sind«. Demir wurde am 28. Januar 2017 wegen »Terrorpropaganda« zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Die Macht auch der unbewaffneten Frauen bekam die türkische Regierung im vergangenen November zu spüren. Damals hatte die regierende AKP einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der Vergewaltigern Minderjähriger Straffreiheit gewähren sollte, wenn diese sich bereit erklärten, ihre Opfer zu heiraten. Dagegen erhob sich ein Sturm der Entrüstung von Frauen im ganzen Land. Selbst der AKP-nahe Frauenverband ging auf Distanz zu dem Gesetzesvorhaben. Daraufhin ließ Präsident Erdogan den Gesetzentwurf wieder zurückziehen. Gerade das Thema Gewalt ist geeignet, Frauen trotz religiöser und politischer Differenzen zusammenzubringen. Davor hat Erdogan Angst.