Artikel: Unsicherheit am Hindukusch

Bundesregierung verlängert Bundeswehr-Einsatz und beschönigt die Lage in Afghanistan, um Abschiebungen zu rechtfertigen

Von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt am 18.11.2016)

Das Bundeskabinett hatte erst am Mittwoch eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis Ende 2017 gebilligt. Der Bundestag muss der weiteren Stationierung von bis zu 980 deutschen Soldaten, die afghanische Sicherheitskräfte ausbilden und beraten sollen, noch zustimmen. Ein Taliban-Angriff auf das deutsche Konsulat in Masar-i-Scharif und ein Selbstmordanschlag auf den US-Stützpunkt Bagram hatten erst vor einer Woche verdeutlicht, dass die Sicherheitslage am Hindukusch weiterhin prekär ist. Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung umfangreiche Abschiebungen von Flüchtlingen nach Afghanistan angekündigt. Die afghanische Regierung wurde bereits vergangenen Monat durch finanzielle Erpressung zur Zusage gegenüber der EU-Kommission und der Bundesregierung genötigt, künftig besser bei der Aufnahme ihrer abgeschobenen Staatsbürger zu kooperieren.

Derzeit sind allerdings lediglich fünf Prozent der 247.000 in Deutschland lebenden Afghanen ausreisepflichtig. Um zumindest die Abschiebung dieser nur über eine Duldung verfügenden Afghanen zu legitimieren, spielt die Bundesregierung in einer aktuellen Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion die Sicherheitsrisiken in Afghanistan herunter.

So sei die Sicherheitslage in den meisten größeren Provinzstädten »ausreichend kontrollierbar«. Eine Offensive der Taliban, die im Oktober die Stadt Kunduz überrannten, wird zur »möglichen zeitweisen Verschlechterung« heruntergespielt. Insgesamt habe sich die Sicherheitslage seit 2015 kaum verändert, heißt es unter Berufung auf den UN-Einsatz UNAMA. Die Vereinten Nationen haben allerdings erst vor wenigen Monaten »die höchste Zahl ziviler Opfer« seit Beginn dieser Erfassung im Jahr 2009 beklagt. Allein zwischen Januar und Juni 2016 gab es 1.601 Tote und 3.565 Verletzte.

 Eine »pauschale Bewertung« der Sicherheitssituation sei nicht möglich, meint die Bundesregierung. Damit soll wohl die Feststellung vermieden werden, dass die Lage überall hochgradig bedrohlich ist. Und zwar nicht nur wegen Taliban und rücksichtsloser ­NATO-Bomber: Selbst das US-Außenministerium erklärt, dass Rechtsverstöße afghanischer Beamter weit verbreitet sind und kaum verfolgt werden. Die Bundesregierung räumt immerhin ein, sie habe keinen Grund, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Sie gibt auch zu, dass insbesondere Mädchen und Frauen kein staatlicher Schutz vor Gewalt durch Polizei oder Justiz zur Verfügung stehe. Um diese Aussage auszugleichen, weist sie auf einen vermeintlich großen Erfolg der Frauenrechtsarbeit am Hindukusch hin: »2015 belegt Afghanistan im Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit Rang 171 und ist damit seit 2011 um einen Rang gestiegen« – auf einer gerade einmal 188 Staaten erfassenden Liste.

Für die Afghanen hat die beschönigende Darstellung der Bundesregierung noch kaum praktische Folgen: Lediglich 27 Abschiebungen hat es in diesem Jahr nach Afghanistan gegeben. Das ist kein Grund zur Entwarnung. Denn in einem internen Papier geht die EU-Kommission von rund 80.000 Afghanen aus, die künftig zurückkehren sollen. Für diejenigen, die jetzt erst im Asylverfahren stehen – das sind bezogen auf Deutschland fast die Hälfte bzw. rund 120.000 – beginnt es in der Tat eng zu werden: Die Anerkennungsquote in den Asylverfahren ist von 77,6 Prozent im Vorjahr auf 52,4 in diesem Jahr gesunken. Da sich die Lage in Afghanistan nicht zum Besseren geändert hat, lässt diese Entwicklung nur den Schluss zu, dass man im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die politischen Vorgaben umsetzt.