Schutzlos in Kabul

Weiterer Abschiebeflug in Afghanistan gelandet – den Rückkehrern drohen Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit

von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 10.06.2021)

Trotz bundesweiter Proteste gegen die angekündigte Sammelabschiebung nach Afghanistan ist am Mittwoch erneut ein Flieger aus Deutschland mit 42 Männern an Bord in Kabul eingetroffen. Insgesamt haben Bund und Länder damit seit der Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Afghanistan im Dezember 2016 1.077 Menschen in Krieg, extreme Armut und Perspektivlosigkeit zurückgebracht. Die meisten Sammelabschiebungen nach Kabul wurden in der letzten Zeit von der spanischen Fluggesellschaft »Privilege Style« vollzogen – Aktivisten der Initiative »No Border Assembly« hatten bereits am vergangenen Freitag im Rahmen eines Onlineaktionstages dafür demonstriert, derartige Profitmacherei zu beenden.

Die Kämpfe zwischen den islamistischen Taliban und Regierungstruppen sind derzeit so heftig wie schon lange nicht mehr. Seit Beginn des Abzugs der US-Armee und anderer NATO-Streitkräfte am 1. Mai haben die Taliban bereits zwölf weitere der rund 400 Bezirke des Landes erobert. Sie rücken in erschreckend schnellem Tempo vor, Hunderte Militärs verloren dabei ihr Leben oder wurden verletzt. Auch Zivilisten werden täglich Opfer von Gewalt. Wie am Mittwoch bekannt wurde, sind bei einem Angriff auf Minenräumer zehn Menschen ums Leben gekommen, 16 weitere seien verletzt worden, bestätigte die Organisation Halo Trust in einer Erklärung.

Doch die Bundesregierung drückt sich in der kürzlich eingegangenen Antwort auf eine Anfrage der Fraktion von Die Linke vor einer realistischen Beschreibung der Verhältnisse und raunt etwas von einer »volatilen Situation«, die keine »sichere Prognose« über die zukünftige Sicherheitslage zulasse. Der Global Peace Index stufte Afghanistan schon 2020 wie auch im Jahr davor als das unsicherste Land der Welt ein. Zudem befindet sich Afghanistan inmitten einer dritten Coronawelle. Die hochansteckende Delta-Variante des Virus breitet sich ungebremst aus, Neuinfektionen steigen exponentiell an, während es an Impfstoff und Behandlungsmöglichkeiten mangelt.

Eine jüngst veröffentlichte Diakonie-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass nach Europa geflohenen Afghanen von ihren Landsleuten häufig Verrat, »Verwestlichung«, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen werde. Dadurch drohten ihnen bei ihrer erzwungenen Rückkehr zusätzliche Gefahren für Leib und Leben. Auch die Familien der Rückkehrer seien schwer gefährdet. Abgeschobenen Afghanen fehle daher ein familiäres Netz, das zur Sicherung ihres Überlebens elementar sei. Auf sich allein gestellt, hätten sie kaum Chancen, ihre Existenz selbst zu sichern. Bereits vor der Coronapandemie lebten laut UNO 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

In der Studie werden Erfahrungen von 113 der 908 Afghanen dokumentiert, die zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschoben wurden. Die meisten von ihnen haben das Land bereits erneut verlassen, rund 27 Prozent sind wieder in Europa und rund 41 Prozent in Iran, Pakistan, der Türkei oder Indien. Auch die wenigen in Afghanistan Verbliebenen planen abermals ihre Flucht oder eine Rückkehr nach Deutschland per Visumverfahren. Obwohl die Sicherheits- und Versorgungslage vor Ort schlechter ist denn je, widerruft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) derweil in zahlreichen Fällen Abschiebeverbote nach Afghanistan. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl fordert dringend eine Änderung dieser Widerrufspraxis, ein sicheres Aufenthaltsrecht für die vielen afghanischen Geflüchteten sowie einen bundesweiten Abschiebestopp.