Rückführungsstopp nach Ungarn

Bundesregierung vermeidet Kritik an inhumaner Flüchtlingspolitik von Ministerpräsident Orbán

Artikel von Ulla Jelpke in Junge Welt vom 30.8.2017

Die Bundesregierung hat einen faktischen Stopp für die Rückführung von Flüchtlingen in das EU-Land Ungarn verhängt. Damit wird gegenüber Ungarn die Dublin-Verordnung ausgesetzt, wonach derjenige EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden erreicht hat. Demnach wäre Ungarn für Flüchtlinge zuständig, die über die »Balkan-Route« in das Land kamen.

Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zur ergänzenden Asylstatistik für das zweite Quartal 2017 wird deutlich, dass seit Mitte April keine Überstellungen von Schutzsuchenden mehr nach Ungarn vorgenommen wurden, nachdem die dortige Asylgesetzgebung abermals verschärft worden war.

Die Regierung von Ministerpräsident Victor Orbán hat an den Grenzen Sperranlagen zur Abwehr von Migranten errichten lassen. Flüchtlinge, die es dennoch ins Land schaffen, werden während der Dauer ihres Asylverfahrens nahe der Grenze zu Serbien in Containerdörfern interniert, die sie nicht verlassen dürfen.

»Prüfungen der Bundesregierung« infolge der von der EU-Kommission gegenüber Ungarn eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren hätten ergeben, »dass Überstellungen nach Ungarn nur noch eingeschränkt möglich sind«, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. Die ungarischen Behörden müssten im Einzelfall schriftlich zusichern, dass Unterbringung und Asylverfahren den EU-Richtlinien entsprächen.

So wurden im zweiten Quartal 2017 bezüglich Ungarn zwar 754 Dublin-Ersuchen gestellt, doch nur noch zwei Rückführungen vorgenommen. Im ersten Quartal waren es noch 28. Orbán, der Vorsitzender der rechtsnationalistischen Partei Fidesz ist, hält Migranten für ein »trojanisches Pferd des Terrorismus«.

Hinter der vermeintlichen »Invasion« von Flüchtlingen sieht Orbán eine Verschwörung linker Parteien und des US-Milliardärs George Soros zur Schwächung der Nationalstaaten. Prahlerisch behauptete Orbán im Juli, fast jeder EU-Regierungschef habe »unter vier Augen« zugegeben, dass seine Flüchtlingspolitik richtig sei. Von der Linksfraktion gefragt, ob sie dem ungarischen Staatschef unmissverständlich zu verstehen gegeben habe, dass dessen Grenz- und Migrationspolitik keineswegs in ihrem Sinne sei, bleibt die Antwort der Bundesregierung vage und ausweichend.

Während in EU-Gremien intensiv und regelmäßig über tatsächliche und vermeintliche Mängel an den EU-Außengrenzen debattiert wird, hat die Bundesregierung dort nicht ein einziges Mal Berichte über systematische Misshandlungen von Geflüchteten an den ungarischen Grenzen thematisiert. Deutlich wird damit: Selbst will sich die Bundesregierung die Hände nicht durch Rückführungen nach Ungarn schmutzig machen, doch den Abschreckungseffekt der Fidesz-Politik nimmt sie billigend in Kauf.

Weiterhin versucht die Bundesregierung, das nicht nur bezüglich Ungarn längst gescheiterte und gegenüber den EU-Außenstaaten unsolidarische Dublin-System zu rechtfertigen. Das erscheint wenig sinnvoll, denn das Ergebnis ist für Deutschland nahezu ein Nullsummenspiel. So standen im zweiten Quartal 2017 1.699 Dublin-Überstellungen aus Deutschland 1.669 Überstellungen anderer EU-Staaten nach Deutschland gegenüber.

Für die betroffenen Flüchtlinge bedeutet dieser Verschiebebahnhof dagegen oft eine Katastrophe. Zudem sind im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) derzeit 310 Mitarbeiter allein mit der bürokratischen Verwaltung des Dublin-Systems beschäftigt, die an anderer Stelle besser eingesetzt wären, etwa zur Abarbeitung der Anträge von lange auf ihr Verfahren wartenden Flüchtlingen.

Organisationen der Flüchtlingshilfe und die Linksfraktion treten für ein »Free-choice-System« ein, dass das Dublin-Abkommen ersetzen soll. Flüchtlinge sollen auch im Interesse einer einfachen Integration dort um Schutz nachsuchen können, wo bereits Verwandte von ihnen leben oder sie die Landessprache beherrschen. Innerhalb der EU sollte es für Ungleichverteilungen einen finanziellen Ausgleich geben.

Die Kleine Anfrage und die Antwort der Bundesregierung sind hier einzusehen:

KA 18_13190 ergänzende Asylstatistik 2017 QII_Dublinverfahren