Artikel: Das Geschäft mit der Angst

Die angekündigten Maßnahmen zur Erhöhung der inneren Sicherheit werden nicht bewirken, was sie ­versprechen. Nicht die Einschränkung der bürgerlichen Rechte, sondern effektive Sozialpolitik ist geboten

Von Ulla Jelpke (erschienen in Junge Welt vom 28.01.2017)

Nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt überbieten sich sogenannte Sicherheitspolitiker der Unionsparteien gegenseitig mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen, weiteren Befugnissen für Polizei und Geheimdienste und ausgeweiteten Überwachungsmöglichkeiten. Der Ruf nach Erhöhung der Sicherheit der Bevölkerung und dem Schutz vor Terroranschlägen ist berechtigt. Diese zu gewährleisten gehört schließlich zu den wichtigsten Aufgaben und Legitimationsquellen eines Staates. In modernen Demokratien geht es aber auch um den Schutz der Bürger vor Verletzungen ihrer Freiheitsrechte durch den Staat.

Gerade deshalb müssen die kursierenden Vorschläge daraufhin geprüft werden, ob sie geeignet sind, sowohl die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten als auch ihre demokratischen Grundrechte zu garantieren – oder ob sie sich vielmehr als unverhältnismäßige Eingriffe in letztere erweisen. Dabei wird man hinnehmen müssen, dass kein Staat eine absolute Sicherheit vor terroristischer Gewalt bieten kann. Zugleich darf kein Staat »alles« tun, um Risikofreiheit vorzugaukeln, weil das auf den Aufbau eines autoritären Polizeistaates hinausliefe.

Wer bedroht unsere Sicherheit?

Der Schrecken, den Terroranschläge wie jener in Berlin, aber auch der auf den Brüsseler Flughafen oder die Konzerthalle in Paris verbreiten, ist deshalb so groß, weil solche Anschläge willkürlich scheinen. Es gibt kaum eine praktikable Vermeidungsstrategie, weil sie sich unterschiedslos gegen ein ziviles Publikum richten. Konservative Hardliner nutzen diese Willkür der Täter und die Angst der potentiellen Opfer, um pauschale Gesetzesverschärfungen zu fordern.

Bislang wird das Brandenburger Tor lediglich dann in den Nationalfarben eines von einem Anschlag betroffenen Landes angestrahlt, wenn es ein westliches ist. Würde man es auch anstrahlen, um der Opfer von Bombenattacken im Irak, in Syrien, Afghanistan oder Pakistan zu gedenken, es bliebe keine Nacht mehr unbeleuchtet. Doch die Trauer, die durch solche Inszenierungen demonstriert wird, gilt ausschließlich den Toten aus dem »eigenen Kulturkreis«. So wird das Gefühl erhöht, »der Westen« sei besonders stark betroffen.

Dabei zeigt sich einmal mehr, dass Angst kein guter Ratgeber ist. Gegen das Phänomen der »gefühlten« Bedrohung beziehungsweise das »Bedrohungsgefühl« lässt sich mit Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen nur begrenzt angehen. Doch sollte zur Kenntnis genommen werden, dass die »westliche Welt« keineswegs Anschlagsziel Nummer eins islamistischer oder anderer Terrorbanden ist. Die meisten Toten verursachen diese terroristischen Organisationen vielmehr in der sogenannten Dritten Welt, ein Großteil ihrer Opfer sind Muslime.

Es geht nicht darum, die Verbrechen der Dschihadisten zu verharmlosen, aber vorhandene Risiken sollten realistisch eingeschätzt werden. Das, was uns tatsächlich gefährdet, ist viel weniger spektakulär und zugleich viel alltäglicher: Autoverkehr, Umweltverschmutzung und Klimaveränderung. Zählen wir zum Bereich der Sicherheit auch soziale Sicherheit, also den Schutz vor Verarmung und Obdachlosigkeit, tun sich ebenfalls gravierende Lücken und Risiken auf.

Diesen Gefährdungen fallen weitaus mehr Menschen als allen Terroranschlägen zusammen zum Opfer. Dass sie uns nicht ebenso sehr beunruhigen, hat auch mit der politischen Instrumentalisierung der Attentate zu tun: Es ist allemal leichter, die Gefahren »außen« zu verorten, sie zu personalisieren und »Fremde« verantwortlich zu machen, als nach dem Anteil der eigenen Seite zu fragen. Das wäre zugleich die Frage nach dem zerstörerischen und lebensbedrohlichen Potential der kapitalistischen Wirtschaftslogik. Es gilt, irrationalen Ängsten entgegenzutreten und ein realistisches Ranking von Risiken und Gefahren einzufordern, um rationale Antworten zu finden.

Flüchtlinge sind keine »Terrorhelfer«

In einer gemeinsamen Presseerklärung haben Bundesjustizminister Heiko Maas und Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 10. Januar eine Reihe von Gesetzesverschärfungen vorgestellt, die als Reaktion auf den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz gelten sollen. Gleich der erste Punkt betrifft eine »verschärfte Residenzpflicht« für Asylsuchende, denen vorgeworfen wird, ihre Identität zu »verschleiern«. Diese Forderung im Kontext der Sicherheitsdebatte zu erheben, ist schon deswegen perfide, weil sie einen direkten Zusammenhang zwischen Terrorgefahr und Flüchtlingsfrage herstellt. Damit werden letztlich Flüchtlinge selbst in die Nähe von Terroristen oder deren Helfern gerückt. Gegen eine solche Diffamierung gilt es festzuhalten: Flüchtlinge fliehen unter anderem vor solchen terroristischen Verbrechern zu uns.

Zudem hat die Bundesregierung keinerlei Erkenntnisse darüber, in welchem Ausmaß Flüchtlinge Behörden über ihre Identität »täuschen«. Bekannt ist allerdings, dass etliche von ihnen keine Ausweispapiere mit sich führen, etwa weil ihre Herkunftsländer ihnen gar keinen Reisepass ausgestellt haben oder die Papiere auf der Flucht verlorengingen. Natürlich vernichten manche Flüchtlinge ihre Papiere gezielt, um eine mögliche Abschiebung zu verhindern. Diese Praxis mag den Law-and-Order-Politikern nicht gefallen, doch daraus einen Terrorverdacht zu konstruieren, entbehrt jeder Grundlage. Eine »verschärfte Residenzpflicht« stellt für zahlreiche Flüchtlinge eine Schikane dar, ein entschlossener Attentäter ließe sich davon allerdings nicht in seinen Plänen stoppen. Hier wird also nicht ein Mehr an Sicherheit geschaffen, sondern lediglich ein Generalverdacht gegen Flüchtlinge erzeugt.

Haft für »Gefährder«?

Zum Forderungskatalog der Bundesregierung gehört die Einführung elektronischer Fußfesseln und präventiver Haft gegen sogenannte Gefährder. Diese Forderung knüpft daran an, dass auch der Attentäter von Berlin, Anis Amri, als Gefährder eingestuft worden war. Natürlich würde man sich rückwirkend betrachtet wünschen, Amri wäre vor Durchführung seiner Tat in Haft genommen worden. So wurden wegen verschiedener Straftaten wie Drogenhandel und Sozialbetrug Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, die gegebenenfalls eine Untersuchungshaft ermöglicht hätten. Eines muss aber bezüglich der Forderung nach Gefährderhaft klar sein: In einem Rechtsstaat darf es keine Inhaftierung ohne ausreichende, dringende Verdachtsgründe geben.

Der Status eines »Gefährders« aber wird keineswegs von einem Gericht vergeben, sondern von den Polizeibehörden der Länder. Die bundeseinheitliche Definition bezeichnet als Gefährder eine Person, »bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung […] begehen wird«. Die Polizei hat allenfalls Verdachtsgründe, die auch auf nicht überprüfbare Angaben von Geheimdiensten zurückgehen können, doch Gerichtsverwertbares liegt nicht vor.

Selbstverständlich sind Personen, die in der salafistischen Szene unterwegs sind, alles andere als Sympathieträger, genausowenig wie Mitglieder von Nazikameradschaften. Auch bei denen kann man nicht ausschließen, dass sie irgendwann ein Flüchtlingswohnheim anzünden. Aber jemanden einzusperren, um ein Verbrechen zu verhindern, das sich noch nicht einmal im Vorbereitungsstadium befindet, bedeutet das Ende des Rechtsstaates. Verbrechensprognosen sind extrem fehlbar, sie dürfen deswegen nicht belastbare Beweise für das Vorliegen von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr ersetzen.

Die Forderung nach erweiterter Abschiebehaft für Gefährder bezieht sich speziell auf ausreisepflichtige Ausländer. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen sie auch dann in Haft genommen werden, wenn ihre Abschiebung auf absehbare Zeit nicht durchgeführt werden kann. Bislang müssen sie in einem solchen Fall nach sechs Monaten freigelassen werden beziehungsweise dürfen gar nicht erst eingesperrt werden.

Die grundrechtliche Problematik ist hier die gleiche wie bei der »Gefährderhaft« für deutsche Staatsbürger und Menschen mit Bleiberecht in Deutschland: Die Inhaftierung würde aufgrund einer bloßen Annahme erfolgen. Dazu kommt, dass hier zwei Dinge vermischt werden: Abschiebehaft dient der Sicherstellung einer bevorstehenden Abschiebung und nicht der Prävention einer befürchteten Straftat. Der beliebige Austausch eines Haftgrundes steht schon fast symbolisch für den schludrigen Umgang der Bundesregierung mit rechtsstaatlichen Geboten.
Elektronische Fußfesseln statt der »Gefährderhaft« sind auch keine vertretbare Lösung. Die Alternative zu einer verfassungswidrigen Maßnahme ist nicht eine andere, scheinbar weniger einschneidende, verfassungswidrige Maßnahme. Ihr Einsatz muss strikt auf gerichtlich überprüfte Fälle begrenzt werden. Doch Gefährder sind in der Regel gerade nicht verurteilt und noch nicht einmal eines konkreten Verbrechens verdächtig. Zudem würden elektronische Fußfesseln einen Attentäter in einer Stadt kaum am Begehen eines Anschlages hindern, da es kaum möglich sein wird, ihn von größeren Menschenansammlungen fernzuhalten.

Geheimdienste nicht belohnen

Was schon als Lehre aus der Mordserie des neofaschistischen NSU verkauft worden war, wird nun auch mit islamistischen Anschlägen begründet: Die Geheimdienste sollen gestärkt werden und mehr Mittel, mehr Personal und mehr Überwachungsbefugnisse erhalten. So soll unter anderem das Bundesamt für Verfassungsschutz aufgewertet und die Landesämter sollen zu dessen Erfüllungsgehilfen gemacht werden.

Das ist genau der falsche Ansatz. Insbesondere die V-Leute-Praxis hat schon in der Naziszene eher das Gegenteil des behaupteten Zwecks bewirkt. Es gibt überhaupt keinen Grund, die V-Leute-Frage im Bereich des Salafismus anders zu bewerten: V-Leute sind keine Diener der demokratischen Gesellschaft, sondern in der Regel Anhänger reaktionärer, latent krimineller Vereinigungen, die sich vom Staat für dubiose Informationen bezahlen lassen.

Geheimdienste sind nicht zur Verbrechensbekämpfung da, und diese liegt auch nicht in ihrem Interesse. Wenn sie im Umfeld krimineller Gruppierungen tätig sind, dann wollen sie in erster Linie Kenntnisse über Strukturen und Hintermänner erlangen. Es gibt ernste Hinweise, dass sich diese Logik im Fall Anis Amri extrem schädlich ausgewirkt hat, weil der Verfassungsschutz oder ausländische Geheimdienste mehr daran interessiert waren, so lange wie möglich Informationen zu gewinnen, als einen zu befürchtenden Anschlag zu verhindern.

Die Bekämpfung von Verbrechen muss wieder eindeutig Sache der Polizei werden. Ob Einrichtungen wie das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ), in dem Polizei- und Geheimdienstbehörden zusammen agieren, aus grundrechtlicher Sicht zulässig sind, ist extrem fraglich. Denn dort werden vertrauliche Informationen ausgetauscht, ohne dass irgend jemand kontrollieren könnte, ob die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen, die Polizei und Geheimdienste für ihre Erhebung berücksichtigen müssten, noch beachtet werden. Es sei daran erinnert, dass das GTAZ in seinen mindestens acht Besprechungen zu Anis Amri stets die vermeintliche Ungefährlichkeit des späteren Attentäters betont hat. Dem Verlust an Rechtsstaatlichkeit und informationellem Selbstbestimmungsrecht steht mithin noch nicht einmal ein Mehr an Sicherheit gegenüber.

Die Geheimdienste dürfen für ihr strukturell bedingtes Versagen – sei es beim NSU oder bei Amri – nicht noch mit mehr Kompetenzen belohnt werden. Notwendig ist statt dessen die Abschaffung der Verfassungsschutzämter als demokratisch nicht zu kontrollierende Fremdkörper in einem Rechtsstaat. Insbesondere der Einsatz von V-Leuten ist als erster Schritt sofort zu beenden.

Wo konkrete Beweise fehlen und die Polizei mit »Prognosen« und »Annahmen« bestimmte Personen in Haft nehmen soll, wird die Grenze zur Willkür schnell überschritten. Diese Dynamik haben andere präventive Befugniserweiterungen vom Unterbindungsgewahrsam bis zum Lauschangriff deutlich gezeigt. Angesichts der Fokussierung der Gefährderdebatte auf Personen aus dem salafistischen beziehungsweise islamistischen Spektrum würde die Gefährderhaft zwangsläufig den Charakter eines antimuslimischen Gesinnungsstrafrechts annehmen.

Nach einer bundesweiten Statistik des BKA werden derzeit 913 Personen als islamistische Gefährder beziehungsweise »relevante Personen« gezählt. Letzteres ist ebenfalls eine Einstufung, die auf polizeilichen »Prognosen« und nicht auf gerichtsfesten Beweisen beruht. Demgegenüber stehen lediglich 126 extreme Rechte. Das ist eine krasse Fehleinschätzung. Seit Ende 2014 erleben wir einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung neofaschistischer Gewalttaten, insbesondere gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte. Selbst das BKA notiert in internen Einschätzungen, dass die Flüchtlingsthematik die rechtsextreme Szene zusammenschweißt und eine weitere Radikalisierung zu befürchten steht. Dazu kommt, dass Hunderte untergetauchte Neonazis zum Teil seit Jahren erfolglos per Haftbefehl gesucht werden. Die einseitige Fokussierung der Gefährderdebatte auf das islamistische Spektrum entspricht nicht der tatsächlichen Gefährdungslage in der Bundesrepublik.

»Gefährderexport«

Kopfzerbrechen bereitet den Abschiebepolitikern in Bund und Ländern mitunter, dass die Herkunftsländer der Abzuschiebenden sich manchmal weigern, »ihre« Leute zurückzunehmen, indem sie etwa die Erteilung der erforderlichen Reisedokumente verweigern. Auf den ersten Blick mag die Forderung plausibel erscheinen, ein Land solle seine eigenen Staatsbürger zurücknehmen. Dabei gerät allerdings die Frage ins Hintertreffen, inwiefern im Herkunftsland überhaupt akzeptable Bedingungen für eine Rückkehr und Wiedereingliederung von Flüchtlingen bestehen. Bei Staaten wie Afghanistan liegt das auf der Hand: Aus humanitärer Sicht ist es absolut inakzeptabel, Menschen in dieses Bürgerkriegsland abzuschieben, weil es dort keine sicheren Gebiete gibt. Dennoch hat die Europäische Union in Verhandlungen mit der afghanischen Regierung offen mit der Kürzung der Entwicklungshilfe gedroht, falls sie nicht bei der Rückkehr ihrer ausreisepflichtigen Staatsbürger kooperiert.

Dass diese Forderung nun in Zusammenhang mit der Sicherheitsdebatte und mit Blick auf »Gefährder« erhoben wird, ist regelrecht absurd. Wenn Politiker an die Verlässlichkeit der polizeilichen Prognosen glauben und davon ausgehen, die betreffenden Personen würden künftig einen Anschlag begehen, dann ist es nicht vertretbar, diese einfach ins Ausland zu schicken. Dadurch ist keine Deradikalisierung zu erwarten. Ein »Gefährderexport«, also die erzwungene Rückkehr von Personen, die sich häufig erst in Deutschland radikalisiert haben, ist unverantwortlich und trägt letztlich zur Schaffung neuer Fluchtgründe in den Herkunftsländern bei.

Vor der eigenen Haustür kehren …

Ungerechtigkeiten zu erfahren ist keine Entschuldigung für terroristische Gewalt, aber kann ein Auslöser dafür sein. Etliche Terroristen wähnen sich in einer Rolle als Rächer der unterdrückten muslimischen Welt. Es genügt nicht, ihre Verbrechen zu verurteilen, sondern wir müssen auch an die materiellen Grundlagen heran, die für manche Anhänger von Terrororganisationen deren »Attraktivität« oder scheinbare Legitimität ausmachen.

Dass die Staaten des globalen Nordens die übrige Welt ökonomisch ausbeuten, ist unbestreitbar. Unser relativer Reichtum basiert auf der Armut der anderen. Die Unterdrückung beschränkt sich dabei nicht auf den Aspekt der Ökonomie, sondern manifestiert sich in einem Geflecht aus Angriffskriegen, Militärinterventionen, Morden per Drohnen, Rüstungslieferungen und einer speziellen Form von »Entwicklungshilfe«. Alles zusammen sorgt dafür, dass die »Dritte Welt« langfristig benachteiligt bleibt.

Diese Unterdrückungsformen werden begleitet durch die politische und soziale Benachteiligung vieler Muslime, die in den industrialisierten Staaten leben, und die hier pauschal unter Verdacht gestellt werden, antimoderne, homophobe und frauenfeindliche Terrorsympathisanten zu sein.

Auf diese Art schaffen die reichen industrialisierten Staaten selbst die Bedingungen, aus denen islamistische »Gotteskrieger« hervorgehen. Zudem war es seit dem Afghanistan-Krieg, aber vor allem auch im Syrien-Konflikt anerkannte Politik des Westens, dschihadistische Terrorgruppen für die eigenen Interessen zu nutzen. Es sei nur daran erinnert, dass Gruppen wie der »Islamische Staat« von der sogenannten freien Welt – der NATO – geduldet und oft auch gefördert wurden. Insbesondere die USA, aber auch die Türkei, hofften, mit Hilfe nützlicher Islamisten die eigenen geostrategischen Ziele zu erreichen. Der Überfall auf den Irak im Jahr 2003, den die Bundesrepublik logistisch mitgetragen hat, tat sein Übriges zur Entstehung jener Terrorgruppen, zu deren Abwehr mittlerweile eine weitere Militarisierungswelle – nach innen wie außen – gefordert wird. Der Teufelskreis aus imperialistischer Gewalt und fundamentalistischer Gegengewalt wird damit nur fortgesetzt, statt ihn endlich zu durchbrechen.

Zu einer effektiven Sicherheitspolitik gehört deswegen auch eine friedliche, emanzipative und ökonomisch gerechte Außenpolitik. Inwiefern das im Kapitalismus eine realistische Option ist, darüber sollten wir uns keine Illusionen machen. Aber selbst unter kapitalistischer Herrschaft ist es nötig und erfolgversprechend, zumindest gegen die schlimmsten Auswüchse zu kämpfen und gegen Rüstungslieferungen, Interventionskriege und ungerechte Freihandelsabkommen aufzutreten.

»Sicherheitsesoterik«

Wie nach jeder aufsehenerregenden Gewalttat wird auch diesmal wieder der Ruf nach verschärfter Videoüberwachung laut. Im Bundestag wird derzeit ein Gesetzentwurf der Bundesregierung debattiert, der den Betrieb von Kameras im öffentlichen Raum ausweitet und die Widerspruchsmöglichkeiten der Datenschutzbehörden der Länder einschränkt.

In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich damit argumentiert, dass durch Videoüberwachung schwere Straftaten »verhindert« werden sollen. Das ist reine Demagogie. Auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion hat die Bundesregierung Ende Dezember 2016 zugegeben: »Die bisher in der Bundesrepublik Deutschland verhinderten Anschläge, die von Tätern des islamistisch-terroristischen Spektrums geplant und vorbereitet wurden, sind nicht maßgeblich aufgrund von Videoüberwachungssystemen vereitelt worden.« Die Regierung konnte auch keine einzige Studie benennen, die eine solche präventive Wirkung bestätigen würde. Das ist leicht erklärt: Angesichts des schnellen Tatablaufs können Videokameras die Taten zwar möglicherweise aufzeichnen, aber nicht zu ihrer Verhinderung beitragen.

Etliche Studien belegen hingegen das Fehlen einer präventiven Wirkung von Videoüberwachung. Die wohl aktuellste Studie stammt aus dem Oktober 2016. Ein Team der Universität Neuchâtel hatte eine zweijährige Untersuchung zu einem videoüberwachten Genfer Wohnviertel durchgeführt: Das Ergebnis »bestätigt die Inexistenz präventiver Wirkungen auf die Kriminalität«, heißt es darin. »Die Überwachungskameras haben nicht zu einem Rückgang der Kriminalität« geführt. Der ehemalige Berliner Piraten-Abgeordnete Christopher Lauer (heute Mitglied der SPD) bezeichnet den Ruf nach verschärfter Videoüberwachung deshalb zu Recht als »Sicherheitsesoterik«.

Man muss hinzufügen, dass es sich um eine Esoterik mit gravierenden Nebenwirkungen handelt, weil sie tief in die Grundrechte der Bürger eingreift: Laut einer im November 2016 erschienenen Stellungnahme des Deutschen Richterbunds erscheint es fraglich, ob das Vorhaben des Bundesinnenministeriums »angesichts des damit verbundenen erheblichen Eingriffs in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verhältnismäßig« ist.

Kameras mögen das »Sicherheitsgefühl« einiger Bürger zwar verbessern – objektiv verändert sich die Sicherheitslage aber nicht. Sicher ist nur, dass die Grundrechte ein weiteres Mal eingeschränkt werden.

Prävention

Die effektivste Terrorbekämpfung besteht darin, zu verhindern, dass sich junge Menschen Terrorgruppen anschließen. Die realen Problemlagen benachteiligter Jugendlichen müssen ernst genommen werden, wenn sie beispielsweise das Gefühl äußern, als Muslime diskriminiert zu werden. Islamfeindlichkeit im Inland ist auch ein Nährboden für salafistische Radikalisierung.

In Deutschland gibt es verschiedene Initiativen und Vereine, die Erfahrungen mit Deradikalisierungs- und Präventionsprogrammen gemacht haben, sowohl im Bereich des Neofaschismus als auch des Salafismus. Doch wer jedes Jahr neue Mittel beantragen muss, kann keine langjährigen Projekte organisieren. Deswegen müssen Bund und Länder die entsprechenden gesetzlichen Möglichkeiten zu einer Verstetigung solcher Initiativen schaffen.

Für eine erfolgreiche Präventionspolitik reichen bloße pädagogische Maßnahmen und Appelle aber nicht aus. Die genannten Projekte werden umso erfolgreicher sein, je mehr auch materieller Schutz vor Verarmung gewährleistet wird. Im Bildungs- und Wohnbereich, am Arbeitsplatz muss der Sozialstaat wieder sichtbar werden. Nur so kann dem – durchaus auf realer Grundlage beruhenden – Gefühl der Benachteiligung entgegengewirkt werden.

Die aktuelle Logik, auf Terrorakte mit einer weiteren Einschränkung der Freiheit zu reagieren, muss durchbrochen werden. Denn sonst schaukeln sich illegitime Gewalt nichtstaatlicher Akteure und illegitimer Machtausbau des Staates immer weiter hoch.