Artikel: Kafkaeskes Szenario

Abgeordneten der linken prokurdischen HDP droht nach Verlust der Immunität die Verhaftung

Von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt am 23.07.16)

Am 20. Mai 2016 hob das Parlament der Türkei die parlamentarische Immunität von 138 Abgeordneten aller Parteien auf, gegen die Strafanzeigen vorliegen. Diese im Namen der Terrorbekämpfung erlassene Verfassungsänderung richtet sich gegen die linke, prokurdische Demokratische Partei der Völker, die mit elf Prozent die drittstärkste Fraktion im Parlament stellt.

Bereits im Januar 2016 hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan gefordert, die Abgeordneten der HDP ins Gefängnis zu stecken. Gegen 55 der 59 HDP-Abgeordneten liegen insgesamt 547 Strafanzeigen vor. Abgeordnete der anderen Parteien wurden – abgesehen von den auch der kemalistischen Opposition gerne vorgeworfenen Präsidentenbeleidigungen – vornehmlich wegen außerhalb der politischen Betätigung stattgefundener Delikte wie Korruption oder Wirtschaftskriminalität angezeigt. Dagegen werden die HDP-Abgeordneten fast ausschließlich politischer Straftaten beschuldigt, die im Rahmen ihrer durch die gesetzgeberische Immunität garantierten Meinungsfreiheit und in Ausübung ihrer Mandate stattfanden.

Allein gegen den HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas liegen 93 Anträge auf Anklage vor. Insgesamt werden gegen ihn zweimal lebenslänglich sowie weitere 486 Jahre Haft gefordert. Als »Propaganda für eine terroristische Vereinigung« – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – werden Demirtas und Fraktionsvize Idris Baluken bereits die Verwendung der Worte »Kurden« und »Kurdistan«

während öffentlicher Reden im Jahr 2012 angelastet. Während der wenige Monate später angelaufenen Friedensgespräche von Regierungsvertretern mit Abdullah Öcalan nahm selbst Erdogan diese inkriminierten Worte in den Mund. In diesem Friedensprozess dienten HDP-Abgeordnete als Mittler zwischen dem auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft sitzenden PKK-Vorsitzenden und der PKK-Führung in den nordirakischen Kandilbergen. Die damals von der Regierung begrüßte Reise von Demirtas nach Kandil wird nun als »Bildung einer kriminellen Vereinigung« ausgelegt. Die Verlesung einer von Öcalan verfassten Botschaft, in der das »Ende des bewaffneten Kampfes« angekündigt wurde, durch den Abgeordneten Sirri Süreyya Önder vor einer Million Menschen zum Newroz-Fest 2013 in Diyarbakir gilt als »Terrorpropaganda«. Dies wirft gleichzeitig ein bezeichnendes Licht auf die unlauteren Absichten der Regierung in diesem vor einem Jahr offiziell aufgekündigten Friedensprozess.

 Ebenfalls als Terrorpropaganda sowie als »Versuch, die Einheit von Staat und Nation zu zerstören« gilt die im Parteiprogramm der HDP enthaltene Forderung nach »demokratischer Autonomie«. Darunter versteht die HDP das Recht auf kommunale Selbstverwaltung und einer Dezentralisierung der staatlichen Strukturen. Mehrere Abgeordnete werden angeklagt, weil sie an Beerdigungen gefallener Guerillakämpfer teilnahmen. Doch auch die Teilnahme an der Trauerfeier für eine im Dezember 2015 von polizeilichen Scharfschützen in der Stadt Cizre erschossenen Krankenschwester fällt unter die Rubrik »Terrorpropaganda«.

Dass als solche auch eine religiöse Predigt gelten kann, musste der frühere Mufti des Religionsamtes und jetzige Abgeordnete für Diyarbakir, Nimetullah Erdogmus, erfahren. Sein »Vergehen«: 2011 hatte er bei einem Freitagsgebet Militäroperationen gegen die Zivilbevölkerung als nicht mit den Prinzipien des Islam vereinbar bezeichnet.

Selbst rein parlamentarische Aktivitäten werden gegen die Abgeordneten verwandt. So hatte der Abgeordnete Nihat Akdogan eine parlamentarische Anfrage nach dem Verbleib von mutmaßlicher Schmuggelware gestellt, die bei Ladenbesitzern beschlagnahmt worden war. Akdogan wolle so »materielle Unterstützung für die PKK sicherstellen«, behauptet die Staatsanwaltschaft und sieht in der Anfrage »Propaganda für eine terroristische Vereinigung«.

Die HDP-Abgeordneten haben erklärt, Vorladungen zum staatsanwaltschaftlichen Verhör nicht nachzukommen. In diesem Fall droht ihre Zwangsvorführung. Sollten sie für die ihnen zur Last gelegten Delikte zu Haftstrafen verurteilt werden, verlieren sie zudem ihre Mandate. Mit dem Ausschluss der einzigen konsequenten Oppositionspartei käme Erdogan seinem Ziel der Alleinherrschaft in Form einer Präsidialdiktatur wieder ein Stück näher.