Artikel: Vor den Stammtischen eingeknickt

Die Bundestagsmehrheit habe sich dem Druck der Stammtische gebeugt, die nicht akzeptieren, daß laut Grundgesetz Straftäter nicht nur weggesperrt, sondern auch resozialisiert werden müßten, kritisierte Die Linke am Donnerstag in einer Erklärung.

Die Neuregelung war notwendig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg im Dezember 2009 die Praxis der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilte.

Die Möglichkeit, die Maßnahme erst nachträglich anzuordnen, entfällt mit der Neuregelung weitgehend. Die Option der Sicherheitsverwahrung muß bereits bei der Verkündung der Freiheitsstrafe benannt werden. Sie soll auf schwerste Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung beschränkt werden. Doch im Unterschied zur bisherigen Regelung kann sie nun bereits bei Ersttätern angewandt werden. Der »Hang zur Begehung erheblicher Straftaten« muß nur noch als »wahrscheinlich« und nicht wie bisher »mit hinreichender Sicherheit« festgestellt werden. Kritiker befürchten einen inflationären Anstieg der Maßnahme.

Zusätzlich will die Regierung durch ein Therapieunterbringungsgesetz auch die rückwirkende Verlängerung der Sicherheitsverwahrung wieder ermöglichen. So soll ein Großteil der über hundert durch das Strasbourger Urteil eigentlich in Freiheit zu entlassenden Personen als »physisch gestörte Gewalttäter« weiterhin weggesperrt werden. Der Justitiar der Linksfrak­tion, der ehemalige Bundesrichter Wolfgang Neskovic, wirft der Regierung deswegen Etikettenschwindel vor. So erlaube die Europäische Menschenrechtskonvention nur eine Unterbringung psychisch Kranker, doch die Mehrheit der in nachträglicher Sicherheitsverwahrung Festgehaltenen sei eben nicht im juristischen Sinne krank.

Die Sicherungsverwahrung, durch die als besonders gefährlich eingeschätzte Täter auch nach Verbüßung ihrer Strafhaft aufgrund angeblich charakterlicher Merkmale eingesperrt bleiben, wurde als »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« im November 1933 eingeführt. Während die DDR dieses Gesetz als »faschistisch« abschaffte, blieb es in der BRD unter neuem Namen bestehen. 1998 wurde unter der SPD/Grünen-Regierung die bisherige Höchstdauer von zehn Jahren auf die Möglichkeit unbegrenzter Inhaftierung ausgeweitet und 2002 die Möglichkeit der nachträglichen Sicherheitsverwahrung geschaffen. Seit 1998 stieg die Zahl der Betroffenen um mehr als 160 Prozent auf heute rund 520 Personen an.