Folter im EU-Auftrag

Bericht von »Amnesty International« zu Misshandlungen von Flüchtlingen in Libyen: Brüssel trägt Mitschuld

von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 16.07.2021)

Die Organisation »Amnesty International« (AI) gibt der Europäischen Union eine Mitschuld an schweren Menschenrechtsverletzungen, denen Flüchtlinge in Libyen ausgesetzt sind. Tausende Menschen seien dort willkürlich in Haftanstalten eingesperrt und würden in ihnen misshandelt, heißt es in einem Bericht von AI, der auf Interviews mit Geflüchteten, Mitarbeitern humanitärer Organisationen und Journalisten basiert und am Donnerstag veröffentlicht wurde.

Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer von Schiffen der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen werden, drohe in Libyen ein regelrechtes »Verschwindenlassen« in Gefängnissen des »Amtes für die Bekämpfung illegaler Migration«. Die Zustände dort sind dem Bericht zufolge geprägt von Folter, Misshandlungen, Vergewaltigung und Ausbeutung. Mehrere Häftlinge seien bereits verhungert. Häufig müssten sie Zwangsarbeit leisten, teils für staatliche Behörden, teils für Angehörige der Milizen.

Die Menschen in den Lagern seien von der Außenwelt nahezu vollständig abgeschottet, ohne Zugang zu humanitären Organisationen. Telefonanrufe zu Angehörigen würden ihnen einzig zu dem Zweck gestattet, die Forderung nach Lösegeld für ihre Freilassung zu übermitteln. Ansonsten komme man nur aus den Lagern, wenn man der Abschiebung ins Heimatland zustimmt. Mindestens zwei Menschen wurden in diesem Jahr bei Fluchtversuchen von den Aufsehern erschossen, mehrere verletzt.

Das Lagersystem wurde im vorigen Jahr umstrukturiert, mehrere irreguläre Lager, die früher direkt von Milizen kontrolliert worden waren, sind jetzt nominell dem libyschen Innenministerium unterstellt – doch eine Verbesserung der Situation war damit laut AI nicht ansatzweise verbunden. Auch die im März dieses Jahres neu eingesetzte Regierung der nationalen Einheit hat keinerlei Schritte in dieser Hinsicht unternommen. Zum Teil seien die gleichen Aufseher wie früher im Dienst. Eine Strafverfolgung für begangene Verbrechen bräuchten sie nicht zu fürchten.

Die Zahl der Insassen ist in diesem Jahr erheblich gestiegen und wird vom UN-Menschenrechtskommissar mit 6.176 angegeben. Ende des vorigen Jahres lag sie noch bei 2.000. Gleichzeitig wird humanitären Organisationen wie der UN-Flüchtlingshilfe immer seltener Zugang zu den Lagern gewährt. Konnten sie im Jahr 2019 noch 1.351 Besuche durchführen, waren es im vergangenen Jahr nur noch 264 und bis Ende Juni 2021 lediglich 63. Die Lager seien »ein schwarzes Loch«, ­zitiert AI einen Menschenrechtler.

Die Fähigkeiten der sogenannten Küstenwache werden unterdessen weiter ausgebaut. Allein im ersten Halbjahr hat sie rund 15.000 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgebracht, mehr als im ganzen Jahr 2020. Das ist ein Ergebnis ihrer Förderung durch die Europäische Union, die Ausbildung, Ausstattung und Hilfe bei der Koordination bereitstellt, ohne sich an den Menschenrechtsverletzungen dieser Truppe zu stören. Während die EU-Staaten seit 2017 ihre Schiffe aus der Region abgezogen haben, brüstet sich die EU-Grenzagentur »Frontex« damit, das Mittelmeer mit Flugzeugen und Drohnen zu überwachen und die Standorte von Flüchtlingsbooten an die Seenotrettungsstellen zu übermitteln. Häufig bleiben Länder wie Italien und Malta dann allerdings untätig, genauso wie Handelsschiffe in der Nähe. Selbst wenn sich die Flüchtlingsboote weit entfernt vor der afrikanischen Küste befinden, wird oftmals gewartet, bis die libysche »Küstenwache« eintrifft. Diese drängt die Boote häufig ab, beschädigt sie oder bringt sie zum Kentern.

Die Zustände in den libyschen Lagern sind schon seit längerem bekannt. Amnesty wirft der EU vor, sie seien »kein Unfall, sondern das bewusst herbeigeführte Ergebnis eines von der EU unterstützten Systems«, das darauf abziele, die Flucht übers Mittelmeer »um jeden Preis« zu unterbinden. Brüssel unterlaufe damit das völkerrechtliche Gebot, Menschen in Not in einen sicheren Hafen zu bringen. Amnesty fordert von den libyschen Behörden, die Haftanstalten sofort zu schließen. Die EU müsse die Kooperation mit der Küstenwache beenden und eigene Rettungsbemühungen unternehmen.