Tod vor den Kanaren

Der Atlantik wird wieder zum Massengrab für Flüchtlinge. EU fordert erneut mehr Abschiebungen

von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 13.11.2020)

Mehr als 400 Menschen sind in diesem Jahr auf dem Weg von Afrika auf die Kanarischen Inseln gestorben. Den Fluchtweg über den Atlantik bezeichnete EU-Innenkommissarin Ylva Johannson am Donnerstag gegenüber dpa als die »tödlichste« Route. Zugleich forderte sie verstärkte Abschiebemaßnahmen.

In diesem Jahr erreichten bislang rund 14.000 Flüchtlinge die zu Spanien gehörenden Inseln – gegenüber lediglich 2.000 im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Nach Angaben des spanischen Innenministeriums kamen allein von Anfang August bis Ende Oktober 8.000 Menschen an. Am vergangenen Wochenende mussten fast 2.000 Schutzsuchende auf der Mole des kleinen Fischerortes Arguineguín auf Gran Canaria übernachten. Die Behörden waren mit ihrer Versorgung völlig überfordert. Ein Polizeisprecher sagte der Zeitung Canarias7, es seien so viele Menschen gewesen, dass die Polizisten nicht von einer Seite des Piers zur anderen gelangen konnten. In den nächsten Tagen soll das überfüllte Lager in Arguineguín durch ein Feldlager des Militärs ersetzt werden.

Der Grund für die verstärkte Migration auf der Atlantikroute liegt vor allem darin, dass zahlreiche innerafrikanische Landgrenzen coronabedingt geschlossen sind. Zugleich erhöhen die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Virus die Not vieler Menschen und damit den »Migrationsdruck«. Die Atlantikroute gilt wegen der häufig stürmischen See als extrem gefährlich. Die einfachen Holzboote legen in Mauretanien, Gambia und Senegal, aber auch teilweise im 2.400 Kilometer entfernten Guinea ab.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) weist darauf hin, dass die von ihr erfassten Zahlen sehr spärlich und unvollständig seien, so dass die tatsächliche Zahl von Menschen, die ertrunken oder auf der Überfahrt verdurstet sind, weit über den erfassten 400 liegen dürfte.

Auf die tragische Entwicklung reagiert die EU mit dem gewohnten Zynismus: Sie sehe ihre Vorschläge einer »Reform« der Asylpolitik bestätigt, so Johannson weiterhin gegenüber dpa. Diese sehen bekanntlich vor, Flüchtlinge an den Außengrenzen zu internieren und möglichst viele von ihnen schnellstens wieder abzuschieben. Auch am Donnerstag wiederholte die EU-Kommissarin ihre Forderung nach effektiver »Rückführung« und Kollaboration mit den Herkunfts- und Transitstaaten. An diesem Freitag wollen die EU-Innenminister darüber beraten.

Die spanische Regierung kündigte unterdessen an, sie werde noch in dieser Woche einen Plan für eine »unverzügliche« Lösung vorlegen. Am Dienstag dieser Woche wurde erstmals seit März wieder ein Abschiebeflug nach Mauretanien gestartet. Die spanische Flüchtlingshilfskommission zeigte sich in diesem Zusammenhang besorgt über den fehlenden Rechtsschutz der Geflüchteten. Es müsse garantiert werden, dass jeder Schutzsuchende eine ordentliche Rechtsberatung bekomme. Die Kanaren dürften nicht wie die griechischen Inseln zu einem »schwarzen Loch« hinsichtlich der Flüchtlingsrechte verkommen. Das Innenministerium müsse endlich eine Überstellung auf das spanische Festland ermöglichen. Kirchenvertreter sprachen sich in den vergangenen Tagen ebenfalls für die Einrichtung »humanitärer Korridore« nach Europa aus.

Aber auch Rassisten treten in der Krise auf den Plan: In Arguineguín versammelten sich am vergangenen Sonnabend über 1.000 Menschen, die gegen die angebliche »Invasion« demonstrierten, einige von ihnen oute­ten sich gegenüber Journalisten als Anhänger der ultrarechten Vox-Partei.