Artikel: Politik ethnischer Homogenisierung

Jungtürkische Regierung nutzte Militärbündnis mit Deutschland zur Ausführung des Genozids

Das Deutsche Kaiserreich hatte am 2. August 1914 mit dem Osmanischen Reich einen Bündnisvertrag geschlossen, der ihm weitreichenden Einfluss auf die türkische Armee zusicherte. Durch den Kriegseintritt der Türkei erhoffte sich die deutsche Militärführung eine Entlastung an den europäischen Fronten. Dagegen wollten die in Konstantinopel regierenden Jungtürken des Comité Union et Progrès (CUP), des »Komitees für Einheit und Fortschritt«, »den Weltkrieg dazu benutzen, mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden«. Das meldete der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans von Wangenheim, im Juni 1915 dem deutschen Reichskanzler.

»Das Osmanische Reich muss ausschließlich türkisch sein, die Existenz fremder Elemente bietet einen Vorwand für europäische Interventionen. Diese Elemente müssen mit Waffengewalt türkisiert werden«, hatte einer der CUP-Ideologen bereits 1909 angesichts des zunehmenden Zerfalls des Vielvölkerreichs eine Politik ethnischer Homogenisierung gefordert.

Den äußeren Anlass für die Umsetzung eines im Zentralkomitee des CUP ausgearbeiteten Geheimplanes zur »Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamtheit« bot die vernichtende Niederlage des von Kriegsminister Enver Pascha geleiteten Winterfeldzuges im Südkaukasus im Januar 1915 aufgrund schwerer Fehler der Militärführung. Enver Pascha und sein deutscher Generalstabschef Friedrich Bronsart von Schellendorf beschuldigten die beiderseits der Front lebenden Armenier, den osmanischen Truppen in den Rücken gefallen zu sein. Eine auch von hohen deutschen Militärs befürwortete Order zur »kriegsbedingten Deportation« der Armenier aufgrund angeblicher Sabotagetätigkeit hinter der Front wurde in den Händen der Jungtürken zum Vernichtungsinstrument.

Als Auftakt des Genozids gilt die Verhaftung, Deportation und Ermordung der armenischen Elite in Konstantinopel am 24. April 1915. In der osmanischen Armee dienende Armenier wurden nun in sogenannten Baubataillonen zusammengefasst und dann ebenso wie die meisten der armenischen Männer im wehrfähigen Alter durch Erschießungskommandos ermordet. Frauen, Kinder und Greise wurden ab Frühjahr 1915 aus ganz Anatolien deportiert und auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt. Kurdische Banden überfielen die Trecks, verschleppten Frauen und Kinder in die Sklaverei und zwangen sie zur Konvertierung zum Islam.

An den Verbannungsorten in der Wüste wurden die Überlebenden ohne ausreichende Nahrung und sauberes Wasser sich selbst überlassen. In der Schlussphase des Völkermordes wurden die noch lebenden Armenier in Lagern bei Deir Essor durch Todesschwadronen aus amnestierten Gewaltverbrechern, kurdischen und kaukasischen Stammeskriegern massakriert.

»Die armenische Frage existiert nicht mehr«, rühmte sich Innenminister Talat Pascha gegenüber einem deutschen Diplomaten. Bis zu 1,5 Millionen Armenier, aber auch Assyrer-Aramäer und andere Christen hatten den Tod gefunden. Obwohl die deutsche Reichsführung durch ihre Diplomaten über die Geschehnisse informiert war, verweigerte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg jede Intervention beim Kriegsverbündeten. Er erklärte: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.« Einzelne deutsche Diplomaten und Offiziere begrüßten sogar offen die Vernichtung der Armenier. Sie unterzeichneten Deportationsbefehle für armenische Zwangsarbeiter, die beim Bau der Bagdadbahn eingesetzt werden sollten, und ließen armenische Stadtviertel beschießen.

Viele Verantwortliche und Profiteure des Genozids schlossen sich nach der Kriegsniederlage des Osmanischen Reiches den Truppen Mustafa Kemals an. Sie rückten nach Gründung der Republik 1923 in hohe Staatsämter auf, während das geraubte armenische Vermögen einer an die Stelle der bisherigen christlichen Händler tretenden türkisch-muslimischen Kapitalistenklasse als Startkapital diente. Aufgrund der ideologischen, personellen und materiellen Kontinuitäten, die nach dem Völkermord in der modernen Türkei bestehen, gehört dessen Leugnung bis heute zur Staatsräson.

Erschien: junge Welt 2.6.2016