Kommentar: Kartell des Schweigens

Keine Gemeinde und kein Bundesland trägt gerne in der Öffentlichkeit das Stigma einer Nazihochburg. Kommunalpolitiker, aber auch Polizeibehörden verharmlosen deshalb gerne Neonazigewalt in ihrem Zuständigkeitsbereich als Randale unter Alkoholeinfluß oder unpolitische Streitigkeiten unter Jugendlichen, und sie leugnen die Existenz einer neofaschistischen Szene vor Ort.

Die Verschleierung der tatsächlichen Zahl rechts motivierter Tötungen fällt dann besonders leicht, wenn die Opfer Obdachlose oder andere sozial Benachteiligte sind, die keine Lobby haben.

Wenn Angeklagte ihre Zugehörigkeit zur rechten Szene verschweigen, tauchen ihre Verbrechen ebenfalls nicht in der Statistik auf, es sei denn – unwahrscheinlich genug – die Staatsanwaltschaften leiten von sich aus entsprechende Ermittlungen ein. Zudem kommt die offizielle Zählweise diesen Verharmlosungsstrategien entgegen: Ausschlaggebend ist der Nachweis der rechten Tatmotivation. Wenn ein Neonazi einen Obdachlosen erschlägt, hat er das nach Einschätzung der Behörden grundsätzlich »nur« getan, weil er betrunken seinen Frust austoben wollte. Daß man schon ein entsprechendes Weltbild mit klaren Feindbildern mitbringen muß, um im Suff »aus Versehen« zum Mörder an Wehrlosen zu werden, fällt dabei unter den Tisch.

Je weniger offizielle Neonazitaten, desto lauter können Unionspolitiker von der angeblich hohen Zahl von Gewalttaten durch »Linksextremisten« schwadronieren und suggerieren, von Linken gehe eine weit größere Gefahr aus als von Neofaschisten. Das von Verfassungsschutz und Union hochgehaltene Extremismuskonstrukt zielt auf eine diffamierende Gleichsetzung von antikapitalistischer Linker und neofaschistischer Rechter.

Dies kann in der Öffentlichkeit nur funktionieren, wenn das tatsächliche Ausmaß rassistischer und neofaschistischer Gewalt- und Tötungsdelikte vertuscht oder kleingerechnet wird. Denn man stelle sich vor, was in diesem Land los wäre, wenn hier in den vergangenen zwei Jahrzehnten womöglich hunderte Todesopfer linker Gewalt zu beklagen wären.

Das Kleinrechnen der Neonazigewalt scheiterte nun jedenfalls teilweise an einer aufmerksamen Öffentlichkeit. Polizei und Geheimdienste müssen sich seit der NSU-Affäre gegen den nur allzu berechtigten Vorwurf wehren, auf dem rechten Auge nichts sehen zu wollen. Daher nun die Neuauswertung. Jetzt gilt es aufzupassen, daß die Behörden in den nächsten Monaten nicht alle Mühe darauf verwenden, die »Verdachtsfälle« wieder einen nach dem anderen auszusortieren.