Rede im Bundestag: Zehntausende Demonstranten bespitzelt

118. Sitzung des Deutschen Bundestages, Freitag, 1. Juli 2011
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE. Einschränkung des Versammlungsrechts durch Massenfunkzellenabfrage

Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wende mich erst einmal an meine Kollegen von der
Union: Dass Sie heute versuchen, das polizeiliche Verfahren
einer massenhaften Funkzellenabfrage in Sachsen,
das bereits als rechtswidrig erkannt worden ist, als
eine ganz normale Ermittlungsmethode darzustellen, ist
der eigentliche Skandal in der heutigen Diskussion.
(Beifall bei der LINKEN)
Was die FDP-Kollegen angeht: Auch wir werden den
Vorschlag aufgreifen, uns die Strafprozessordnung in
diesem Zusammenhang anzuschauen und hier erneut darüber
zu diskutieren. Sie wollen sich immer den Anstrich
einer sogenannten Bürgerrechtspartei geben. Das, was
Sie heute hier geboten haben, hat aber mit Sachlichkeit
absolut nichts zu tun. Es ist einfach nur noch peinlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Heute ist mehrfach zu Recht gesagt worden, dass das
polizeiliche Vorgehen in Dresden mit der Verhältnismäßigkeit
der Mittel nichts, aber auch gar nichts mehr zu
tun hatte.
Im Rahmen der Vorstellung des Bundesverfassungsschutzberichtes
ist erneut dargelegt worden, dass die Anzahl
der Nazigewalttaten vor allem in Ostdeutschland
angestiegen ist. Es ist gerade deswegen überhaupt nicht
hinzunehmen, dass eine Demonstration gegen Nazis mit
über 20 000 Menschen, wie sie in Dresden stattgefunden
hat, insgesamt kriminalisiert wird. Dies ist bereits im
Vorfeld geschehen. Denn auch schon vorher wurde das
Bündnis „Nazifrei! – Dresden stellt sich quer“ beobachtet.
(Manuel Höferlin [FDP]: Und Sie ja gar
nicht!)
Die betroffenen Bürgerinitiativen, die diese Demonstration
organisiert haben, wussten nicht, dass sie schon im
Vorfeld – Stichwort § 129 – ausgespäht wurden. Das ist
in der Tat – hierbei handelt es sich übrigens um Bundesgesetze
– eine Kriminalisierung von Antifaschisten. Das
ist einfach nicht hinzunehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die sächsische Regierung schwindelt sich in diesen
Tagen im Übrigen von einer Lüge zur nächsten. Heute
wissen wir, dass ganze Stadtteile total überwacht wurden.
(Manuel Höferlin [FDP]: Was ist denn total
überwacht? – Helmut Brandt [CDU/CSU]:
Wer von Lügen anderer spricht, sollte selbst
die Wahrheit sagen! – Dr. Patrick Sensburg
[CDU/CSU]: In wie vielen Fällen denn?)
Die Daten Zehntausender Handynutzer wurden erfasst.
1 Million Handydatensätze sind gespeichert worden; das
ist schon mehrfach gesagt worden. Sogenannte IMSICatcher
wurden eingesetzt, um direkt mitzuhören, was in
den Handygesprächen vor Ort gesagt wurde. Wir bekommen
hiermit einen Vorgeschmack auf die Pläne von
CDU und SPD – das ist der einzige Punkt, in dem ich der
Kollegin Piltz zustimmen kann –, die uneingeschränkte
anlasslose Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen
und das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevölkerung
zu erfassen. Das lehnen wir ganz klar ab. Aber
genau das hat dort stattgefunden.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick
Sensburg [CDU/CSU]: Es geht um die Aufklärung
von Straftaten!)
– Hier geht es darum, dass Zehntausende unbescholtener
Bürger, über die wir heute kaum geredet haben,
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich habe darüber geredet!)
ebenfalls abgehört wurden; das müssen Sie sich klarmachen.
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die brauchen
keine Angst zu haben! – Gisela Piltz
[FDP]: Da ist doch gar keiner abgehört worden!)
Es gibt keinen Grund, zu glauben, es sei der Polizei nur
darum gegangen, einzelne Gewalttäter unter Zehntausenden
Nazigegnern zu identifizieren. Wenn Neonazis in
der Vergangenheit irgendwo in Sachsen einen Migranten
oder einen Obdachlosen zusammengeschlagen haben,
hat die Polizei noch nie – ich betone: noch nie – flächendeckende
Abhörmaßnahmen durchgeführt; Sie müssen
mir erst das Gegenteil beweisen. Das heißt natürlich
nicht, dass wir das fordern. Entscheidend ist aber, welche
verhältnismäßigen Mittel zu welchem Zeitpunkt eingesetzt
werden. Es wird deutlich, dass es Ihnen vor allem
um eines geht: Der Feind steht auf der Seite der Antifaschisten
und eben nicht auf der Seite der Neonazis.
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die, die
Straftaten begehen, sind die, die die Daten haben
wollen!)
Das ist hier das große Problem.
(Gisela Piltz [FDP]: Das hängt immer davon
ab, wie man damit umgeht! – Michael Leutert
[DIE LINKE]: Ja, Rechte haben schon viele
erschlagen! Es gibt aber keine Toten durch
Linke!)
– Ich glaube, ich habe hier das Wort.
In den Augen der sächsischen Regierung ist jeder kriminell,
der dazu beigetragen hat, den Naziaufmarsch am
19. Februar 2011 zu verhindern. Nicht anders ist zu erklären,
dass dort im Vorfeld allen Ernstes Abhörmethoden
gegen das Bündnis „Dresden – Nazifrei“ eingesetzt
worden sind. Ich hoffe, dass es Klagen von Journalisten
und Anwälten geben wird; denn auch der Überwachungsschutz
wurde verletzt.
(Manuel Höferlin [FDP]: Ich wusste gar nicht,
dass die Überwachung geschützt wird!)
Anwälte, Journalisten und auch Parlamentarier haben
Berufsgeheimnisse. Sie dürfen deshalb nicht überwacht
werden. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse
hat diesen Skandal als „Demokratie auf Sächsisch“ bezeichnet.
Dem kann ich eigentlich nur in einer Hinsicht
widersprechen: Es handelt sich in diesem Fall nicht nur
um Sachsen. So etwas gibt es auch in anderen Teilen der
Republik.
Die Bundesregierung darf sich hier nicht aus der Verantwortung
stehlen. Ich hoffe, dass wir eine auswertende
Debatte führen werden, und zwar nicht nur in Bezug auf
den § 100. Wir fordern, dass die Daten nach der Aufklärung
dieses Sachverhalts unter Beteiligung von Datenschutzbeauftragten
gelöscht werden. Das ist das Mindeste,
was passieren sollte. Aber erst einmal muss der
Fall aufgeklärt werden. Die Bundespolizei hat dort übrigens
mit Verbindungsbeamten im Einsatzstab gearbeitet,
das heißt, auch bei ihr liegt die Verantwortung, mitzuwirken,
dass die Aufklärung vorangeht. Der Einsatz dort
hat fast eine halbe Million DM – Entschuldigung: Euro –
gekostet.
(Gisela Piltz [FDP]: Dass Sie nicht auf der Höhe
der Zeit sind, wussten wir schon immer!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Ich komme zum letzten Satz. – Wir werden unsere begonnene
Auswertung dieses Einsatzes fortführen. Ich
hoffe, dass wir von den antifaschistischen Bündnissen
viel Unterstützung bekommen.
Danke.
(Beifall bei der LINKEN)