Rede zum Tag ohne Abschiebung

Liebe Freundinnen und Freunde,

auch in diesen Tagen und leider wohl auch am heutigen „Tag ohne Abschiebung“ werden wieder Menschen aus Deutschland deportiert. Sie werden zum Teil gefesselt und mit Spezialhelmen ruhiggestellt von der Bundespolizei in Flugzeuge gebracht. Sie werden in Länder deportiert, in denen ihnen politische Verfolgung, Folter und Erniedrigung droht. Sie werden in Länder deportiert, die von Bürgerkriegen erschüttert werden oder unter den Folgen vorangegangener, meist vom Westen unterstützten Kriege leiden. Sie werden in Länder deportiert, die von Naturkatastrophen, Dürre, Verwüstungen und Hunger geplagt werden. All diesen Menschen droht Perspektivlosigkeit und Elend, wenn nicht sogar unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. All diese Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten, aus Lateinamerika und Asien sind oftmals unter Lebensgefahr aus ihrer Heimat geflohen, um in Europa, in Deutschland ein würdiges Leben zu finden, das ihnen in ihren Herkunftsländern verwehrt bleibt.

Einige von ihnen befinden sich hier in der Neusser Grünstraße im bundesweit einzigen Abschiebeknast für Frauen. Offiziell ist Abschiebehaft keine Strafe, sondern eine reine Verwaltungsmaßnahme, bei der die Betroffenen bis auf die Freizügigkeit alle anderen Rechte behalten. Doch ihr wisst: die Realität ist eine andere. Abschiebegefangene werden wie Kriminelle behandelt und völlig entrechtet – obwohl ihr einziges so genanntes Verbrechen darin besteht, auf ein besseres Leben in Deutschland gehofft zu haben.
Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass allein zwischen 1993 und 2006 rund 50 Menschen in deutschen Abschiebegefängnissen in Folge von Hungerstreik oder Selbstmordversuchen ums Leben gekommen sind. Über 400 Abschiebehäftlinge haben sich bei Selbsttötungsversuchen ernsthaft verletzt. Das zeigt, in welche Verzweiflung die deutsche Abschiebepolitik die Betroffenen treibt.

Diese Politik ist die logische Konsequenz aus der Abschaffung des Asylrechts durch den so genannten Asylkompromiss der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP zusammen mit der SPD-Opposition vor 15 Jahren. Aus dem Grundrecht auf Asyl wurde damals eine bloße Hülle wortreicher Paragraphen. Die mit dem »Asylkompromiß« deutlich gewordene Maxime der Bundesregierung lautet bis heute: Abschottung geht vor Humanität. Seitdem haben Flüchtlinge kaum eine Chance, in Deutschland politisches Asyl zu erhalten – selbst wenn sie nachweisbar Verfolgung und Folter in ihrer Heimat ausgesetzt waren.

Leider beschränkt sich diese Politik längst nicht mehr nur auf die Bundesrepublik. Vor rund zwei Monaten hat das Europaparlament nach zweijähriger Verhandlungsdauer die so genannte Rückführungsrichtlinie beschlossen. Das EU-Parlament folgte einem Entwurf der europäischen Innenministerkonferenz. Federführend war dabei der deutsche Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble.

Die „Rückführungs-Richtlinie“ entspricht in etwa der geltenden deutschen Rechtslage, die von Flüchtlingsinitiativen seit jeher massiv kritisiert wird. Bislang kannte man nur in Deutschland eine Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten, während die Höchstdauer beispielsweise in Spanien 40 Tage betrug. Nun ist die deutsche Regelung EU-weit übernommen worden.

Wenn eine Abschiebung aus so genannten »technischen« Gründen oder wegen Krankheit des Ausreisepflichtigen nicht möglich ist, können die EU-Mitgliedsstaaten die Betroffenen besonders kontrollieren, etwa durch Festlegung eines bestimmten Aufenthaltsortes. Auch dies kennen wir aus Deutschland. Hier gibt es bereits jetzt solche so genannten »Ausreisezentren«. In diesen Lagern sollen die Betroffenen durch psychischen Terror mürbe gemacht werden, bis sie scheinbar »freiwillig« das Land verlassen.

Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Peter Altmaier (CDU), brachte den Erfolg der deutschen Abschiebepolitik auf EU-Ebene auf den Punkt: »Wir haben im Sinne Deutschlands erreicht, daß die Abschiebungen von denen, die wir loswerden wollen, in Zukunft erleichtert werden.« Am deutschen Wesen soll Europa genesen – zu Lasten von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten, die noch ein Stück weiter entrechtet werden.

Jetzt reden die EU-Innenminister von einem Einwanderungspakt. Dahinter steckt die alte Forderung von deutschen Unionspolitikern, nur solche Migrantinnen und Migranten nach Deutschland und Europa zu lassen, die – so heißt es – „uns nützen und nicht ausnützen“.

Um es deutlich zu sagen: Die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik stellt eine neue Form des Neokolonialismus dar. Während die europäischen Staaten durch eine neoliberale Weltwirtschaftspolitik die Ressourcen der „armen“ – oder besser unterentwickelt gehaltenen – Länder ausbeuten und mit der Entfesselung oder Unterstützung von Kriegen weltweit erst zur Schaffung von Fluchtursachen beitragen, sollen die Opfer dieser ungerechten Weltordnung draußen bleiben. Allenfalls als billige Arbeitsklaven dürfen sie nach Europa – wenn das Kapital sie gerade einmal benötigen sollte. Diese Praxis, Menschen nach dem Nützlichkeitsprinzip als ökonomische Verfügungsmasse zu behandeln, zieht sich wie ein roter Faden durch die EU-Migrationspolitik. Die Menschenrechte der Flüchtlinge bleiben auf der Strecke.

Als Mitglied des Bundestagsinnenausschusses nehme ich regelmäßig an Delegationsreisen teil. Solche Reisen führten uns unter anderem nach Polen und in die Ukraine und ebenso nach Marokko und den Senegal. Als Abgeordnete sollten wir uns dort mit eigenen Augen ein Bild machen, wie die Außengrenzen der Festung Europas heute abgeschottet werden.

Auch Länder, die gar nicht Mitglied der EU sind, werden von der EU mit ökonomischem Druck zu Gendarmen-Diensten gezwungen. Solche Länder leiden selber unter hoher Arbeitslosigkeit und der fehlenden Möglichkeit, dass ihre Bürger legal zum Arbeiten nach Europa kommen können. Doch die EU zwingt diese Länder, die Schmutzarbeit zu übernehmen. So errichten nordafrikanische Staaten wie Libyen oder Marokko im EU-Auftrag Internierungslager für afrikanische Flüchtlinge. Und die EU rüstet solche autoritären Regime mit Schnellbooten und anderer Militärtechnik gegen Flüchtlinge auf.

Für die Flüchtlingsabwehr an den Außengrenzen des Schengenraums ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex zuständig. Auch Deutschland ist an dieser Spezialeinheit beteiligt. In der Öffentlichkeit wurde Frontex vor allem bekannt durch militärisch-polizeiliche Einsätze im ägäischen, italienischen und spanischen Mittelmeerraum sowie im Atlantik entlang der westafrikanischen Küste. Mit Schnellbooten werden Flüchtlinge innerhalb eines 200-Meilen-Bereichs zwischen dem Senegal und den Kanarischen Inseln teilweise gewaltsam von ihren Fischerbooten geholt und entgegen internationalem Recht, das solche Aktionen auf hoher See verbietet, nach Afrika »zurückgeführt«. In meinen Augen handelt es sich dabei um eine Form der Piraterie im Namen der Europäischen Union!

Nicht nur entlang der afrikanischen Küste verläuft der Operationsraum von Frontex. Auch an der polnischen Grenze aber auch außerhalb des EU-Raums im Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Moldawien ist Frontex mit Beobachtern aktiv. Zwischen Polen und der Ukraine wurden Grenzzäune hochgezogen und Grenzstreifen eingerichtet, die vom Militär bewacht werden. Zum Einsatz kommen Wärmebildkameras oder Leuchtsignalminen, die automatisch ausgelöst werden, wenn Menschen sie beim Überschreiten des Grenzstreifens berühren. Die Ukraine hat »Bürgervereine« organisiert, die den Grenzbeamten helfen sollen, illegalisierte Personen zu entdecken. Sogar Schüler werden als so genannte »junge Freunde des Grenzschutzes« instrumentalisiert. Den Aufwand, mit Kosten in Milliardenhöhe die Grenzen zu sichern, betreibt die Ukraine hauptsächlich im Interesse der EU, um eine Beitrittsperspektive zu erhalten.

Damit hat sich wieder einmal die bei früheren Verschiebungen der Schengen-Außengrenzen gewonnene Erfahrung bestätigt, dass das System zwar Reiseerleichterungen für EU-Bürger im Inneren bringt, zugleich aber eine Mauer nach außen aufgerichtet wird. Statt Nachbarschaft gibt es Ausgrenzung. Aber dies alles hat natürlich auch schwerwiegende Folgen über den betroffenen Grenzraum hinaus. Menschen, die in ihrer Not in Europa Hilfe suchen wollen, wird dies verwehrt. Flüchtlinge und Migranten haben nahezu keine Chance mehr auf eine bessere Zukunft in der EU.

Ziemlich genau vor einer Woche, am 22.08., hat das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in einem Gutachten für den Europäischen Gerichtshof die Asyl-Widerrufspraxis der Bundesregierung scharf kritisiert und für unvereinbar mit der Genfer Flüchtlingskonvention erklärt. In dem UNHCR-Gutachten heißt es: Der Sturz eines Regimes sei keine ausreichende Grundlage dafür, einem Flüchtling die Asylberechtigung abzusprechen. Verfolgungsgründe könnten trotz eines Regimewechsels bestehen bleiben, es könnten aber auch neue hinzukommen. Dies alles wird von der Bundesregierung aber nicht berücksichtigt. Wird die Asyl-Anerkennung widerrufen, müssen die Betroffenen unter Umständen mit einem Verlust ihres Aufenthaltstitels rechnen. Die Praxis der deutschen Behörden, Asylberechtigungen nachträglich zu widerrufen, stößt Zehntausende von Flüchtlingen in ständige Unsicherheit und Angst. Nach Angaben des UNHCR wurde seit dem Irak-Krieg 17.000 irakischen Staatsbürgern die Asylberechtigung abgesprochen. Die Bundesregierung hat mir gegenüber bereits im April erklärt, noch in diesem Jahr insgesamt 42.000 Widerrufsverfahren einleiten zu wollen. Diese Widerrufspraxis muss sofort gestoppt werden!

Liebe Freundinnen und Freunde,

Bringen wir die Festung Europa zum Einstürzen!
Treten wir gemeinsam für ein Europa ein, das solidarisch ist mit den Ländern des Südens und Ostens. Fluchtursachen wie Armut und Krieg müssen bekämpft und internationale Freizügigkeit erkämpft werden.
Machen wir nicht nur den heutigen Tag zu einem Tag ohne Abschiebungen. Treten wir gemeinsam dafür ein, dass alle Abschiebungen gestoppt und alle hier lebenden Menschen endlich ein wirkliches Bleiberecht erhalten.