Artikel: Was ist Schäuble nicht zuzutrauen?

Diese Politik hat einen Klimawandel bewirkt, wie kürzlich an einer kleinen Begebenheit deutlich wurde.

Am 9. Juni 2007 meldete der Spiegel, Schäuble wolle die Fingerabdrücke aller in Deutschland lebenden Ausländer erfassen und speichern lassen. Im Ausländerzentralregister sollten demnach auch jene Menschen erfaßt werden, die seit Jahren hier leben.

Ein offizieller Gesetzentwurf lag allerdings noch nicht vor, kein Text, aus dem der Spiegel hätte zitieren können. Somit konnte Schäuble dementieren, ohne befürchten zu müssen, daß ihm seine wirklichen Absichten vorgehalten werden. Der Minister erklärte, es gehe »nur« darum, daß Fingerabdrücke, die nach bestehenden Vorschriften ohnehin schon erhoben worden seien, etwa von Asylbewerbern oder Visa-Antragstellern, »zentral erfaßt und verwaltet« würden.

Schon das wäre kritikwürdig.

Aber der Vorgang ist noch aus einem anderen Grund bemerkenswert. Noch vor wenigen Jahren hätte jedermann diese Meldung des Spiegel für eine Zeitungsente gehalten. Jede Überlegung, Fingerabdrücke einer ganzen Bevölkerungsgruppe ohne konkreten Tatverdacht »auf Vorrat« speichern zu wollen, wäre als absurd erschienen. Heute kommt es niemandem mehr unwahrscheinlich vor, daß das Bundesinnenministerium eine solche Datei planen könnte. Niemand hält Berichte über eine solch lückenlose Überwachung von Ausländern spontan für falsch, sondern diesem Minister traut man inzwischen fast alles zu. Und so kritisierten Oppositionssprecher – auch ich – Schäubles Vorhaben sofort als diskriminierend und grundgesetzwidrig. Von Generalverdacht gegenüber Ausländern war die Rede – mit Recht. Und auch nach Schäubles Dementi ist durchaus Mißtrauen angebracht, denn die Ausländerrechtsabteilung im Bundesinnenministerium hat schon so viele Vorschriften zur Abschottung und Ausgrenzung produziert, daß man sich auch über einen Plan zur Totalerfassung von Fingerabdrücken nicht mehr wundern würde. Das beweist, wie sich die Grundkoordinaten in der Innenpolitik verschoben haben. Der jahrelange Abbau von Bürgerrechten zeitigt Wirkung. Was früher undenkbar war, wird heute als pragmatische Regierungspolitik angesehen, mit der man sich ernsthaft auseinandersetzen müsse.

Hinzu kam, daß genau am Tag vor der Spiegel-Meldung der Bundesrat die erstmalige elektronische Speicherung von Fingerabdrücken in den Reisepässen gebilligt hatte. Zudem tauschen Deutschland und Österreich seit Juni 2007 als weltweit erste Staaten elektronisch Fingerabdruck-Daten aus. Die Polizeien beider Länder können wechselseitig auf die Datenbanken des Nachbarlandes zugreifen. Insofern paßte der vermeintliche Schäuble-Plan zu den tatsächlich beschlossenen Neuerungen.

Im übrigen ist es ja die erklärte Politik dieser Bundesregierung, Daten auf Vorrat zu speichern. Die Telekommunikationsdaten werden künftig sechs Monate gespeichert, und zwar ausschließlich für polizeiliche Zwecke. Millionen von Bürgerinnen und Bürgern sind davon betroffen, obwohl gegen sie keinerlei Verdacht einer Straftat vorliegt. Verdachtslose Datenspeicherungen »auf Vorrat« sind ein typisches Kennzeichen des Überwachungsstaates.

Fazit: Die jahrelange Politik der Eingriffe in Grundrechte hat ein Klima geschaffen, in welchem auch noch der absurdeste Verschärfungsvorschlag ernst genommen wird. Die offensichtliche Gefahr dieses Klimawandels liegt in einem Gewöhnungseffekt, der es der Regierung erleichtert, immer neue Verschärfungen durchzusetzen.

Oder hat Schäuble in letzter Zeit überzogen? Daß er im Mai in einem Spiegel-Interview die Unschuldsvermutung – das für den Rechtsstaat grundlegende Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat – relativierte, hat vielleicht doch manche aufgeschreckt. Durch die Online-Durchsuchungen von PCs fühlen sich viele betroffen, die sich mit dem dummen Argument »Ich habe ja nichts zu verbergen« bisher nicht um Bewahrung der Privatsphäre gekümmert haben. Jedenfalls deutet sich ein neuer Wandel des politischen Klimas an. Eine Umfrage von infratest dimap, veröffentlicht im ARD-Deutschland-Trend vom Mai 2007, ergab ein verändertes Bild. Bisher stand bei solchen Umfragen stets eine große Mehrheit auf Seiten der Schilys und Schäubles. Nun meldete die ARD am 23. Mai 2007: »Die Vorschläge von Innenminister Schäuble zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze finden keine Mehrheit. Vor dem Hintergrund eines insgesamt geringen Bedrohungsgefühls halten nur 44 Prozent dies für erforderlich, 54 Prozent glauben, die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten seien ausreichend. Die Ablehnung der Pläne Schäubles spiegelt sich in einem deutlichen Ansehensverlust seiner Person: Statt 54 Prozent wie im April sind aktuell nur noch 41 Prozent mit Schäuble zufrieden – der niedrigste Wert in seiner aktuellen Amtszeit.«

Man sollte solche Umfrageergebnisse als Momentaufnahmen nicht überbewerten. Der Kampf um die Bürgerrechte wird schwierig bleiben, aber er scheint allmählich stärkeren Widerhall zu finden.

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag

Artikel zuerst erschienen in: Ossietzky, 13/2007