Rede: Die historische Bedeutung des Stuttgarter Sozialistenkongresses von 1907

Historische Bedeutung des Internationalen Sozialistenkongresses 1907 – Stuttgart 30.Juni 2007

Referentin: Ulla Jelpke

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor 100 Jahren versammelte sich hier in Stuttgart ein Weltparlament der Arbeiterinnen und Arbeiter oder wie man damals sagte: des Proletariats.

Die imperialistische Kriegspolitik der Großmächte einerseits und die Erfahrungen mit der russischen Revolution von 1905 andererseits wirkten sich prägend auf den Stuttgarter Sozialistenkongress aus.

Die russische Revolution von 1905 hatte trotz ihrer Niederschlagung zu einem weltweiten Aufschwung der revolutionären Bewegung geführt. Erstmals war das neue Kampfmittel des Massenstreiks erfolgreich erprobt worden und mit dem Petersburger Sowjet entstand erstmals seit der Pariser Kommune von 1871 wieder ein Arbeiterrat, in dem sich das werktätige Volk politisch organisierte. Die russische Revolution hatte den schon parlamentarisch erstarrten sozialistischen Parteien Westeuropas vor Augen geführt, dass Revolution grundsätzlich möglich ist.

Das Jahr 1907 stand insbesondere für das deutsche Kaiserreich im Zeichen von Kolonialismus und Krieg. Bereits seit 1904 tobte in der euphemistisch als Schutzgebiet bezeichneten Kolonie Deutsch-Südwestafrika ein Krieg der Kolonialtruppen gegen die Hereros und Namas. Dieser Krieg hatte zur fast vollständigen Ausrottung der Hereros geführt – dem ersten von Deutschen begangenen Völkermord des 20.Jahrhunderts. Dennoch weigerte sich gerade erst Mitte Juni die Bundestagsmehrheit, einem Antrag der Linksfraktion zuzustimmen, die Massaker an den Herero als Völkermord anzuerkennen und Entschädigungen an Namibia zu zahlen. Nach der Ausrottung der Hereros setzten die in Deutschland als Hottentotten bezeichneten Nama mit einem Guerillakrieg den Widerstand gegen die deutschen Kolonialtruppe und Siedler fort. Als Reichskanzler von Bülow 1906 im Reichstag weitere Mittel für das koloniale Gemetzel beantragte, stimmte eine Mehrheit aus Sozialdemokraten und katholischer Zentrumspartei dagegen. Um seine Kriegspolitik auf eine stabile Mehrheit zu stellen, löste Bülow den Reichstag auf und rief Neuwahlen aus. Der Wahlkampf ging als „Hottentotten-Wahl“ in die Geschichte ein.

Der Wahlkampf stand »unter dem Zeichen eines zur Siedehitze gesteigerten Klassenkampfes«, schrieb Karl Liebknecht. Während des Wahlkampfes entfaltete die konservative Rechte eine beispiellose Hetzkampagne gegen die Sozialdemokraten. Erstmals griffen die von der Rüstungs- und Schwerindustrie gesponserten nationalistischen Verbände wie der Alldeutsche Verband, der Deutsche Flottenverein und die Deutsche Kolonialgesellschaft koordiniert in den Wahlkampf ein, um die noch unentschiedenen Mittelschichten zu gewinnen. Zur Rechtfertigung der Rüstungs- und Kolonialpolitik propagierten sie Lebensraumtheorie, Rassismus und Kriegsverherrlichung.
Mit fast 85 Prozent war die Wahlbeteiligung am 25. Januar 1907 die bis dahin höchste aller Reichstagswahlen. Die Sozialdemokratie als bei weitem stärkste Partei mit 28,9 Prozent Stimmenanteil konnte trotz der massiven antisozialistischen Hetze ihre absolute Stimmenzahl von 3,01 Millionen auf 3,26 Millionen steigern. Zweitstärkste Partei wurde das Zentrum mit rund zwei Millionen Stimmen. Doch in Folge der geschlossenen Front ihrer bürgerlichen Gegner bei den Stichwahlen und einer veralteten Wahlkreiseinteilung verloren die Sozialdemokraten über die Hälfte ihrer Mandate und erhielten nur 43 Abgeordnetensitze.
Die »Hottentottenwahl« markierte einen Wendepunkt der deutschen Politik. »Sie zeigt uns, daß die nächste politische Entwicklung unter dem Zeichen der Weltpolitik steht«, warnte Rosa Luxemburg. »Weltpolitik bedeutet Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik. Das ist der Strudel, dem der Kapitalismus entgegenstürmt und in dem er mit Mann und Maus unterzugehen verdammt ist.«
Die Weichen zum Weltkrieg waren gestellt. Hintergrund war die ökonomische Entwicklung des deutschen Imperialismus seit der Jahrhundertwende mit einem starken wirtschaftlichen Wachstum und beschleunigter Monopolisierung der Wirtschaft. Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Rohstoffen geriet der deutsche Imperialismus zunehmend in Widerspruch mit den anderen Großmächten und drängte immer aggressiver auf eine Neuaufteilung der Welt.
Der rechte Flügel der Sozialdemokratie hatte immer auf die Linksliberalen als möglichem Koalitionspartner geschielt. Doch so, wie heute die einstmals linken Grünen zu einer bürgerlichen Kriegspartei verkommen sind, schwenkten damals die Linksliberalen auf den Kriegskurs von Kanzler Bülow ein, um ein Stückchen vom Kuchen der Macht abzubekommen. Die Reichsregierung konnte sich nach der „Hottentottenwahl“ bei der Umsetzung ihrer Kriegspolitik auf den von der Schwerindustrie gewünschten »Bülow-Block« aus Konservativen sowie Rechts- und Linksliberalen stützten. Einer der ersten Beschlüsse des neuen Reichstags war die Einrichtung des Reichskolonialamtes in der Berliner Wilhelmstraße, also eines Ministeriums, dass im Interesse des Großkapitals die Unterdrückung und Ausplünderung der Kolonien organisieren sollte.

[Militarismus und Antimilitarismus]

Innerhalb der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung sorgten die Fragen von Kolonialismus und Kriegsgefahr für heftige Kontroversen. Während rechte Sozialdemokraten die antiimperialistische Agitation ihrer Partei als Hauptgrund für die Wahlniederlage bezeichneten und auf reformistische Kleinarbeit setzten, sah der Parteilinke Karl Liebknecht im Wahlausgang gerade den Beweis für die brennende Notwendigkeit der Bekämpfung des »inneren Militarismus«. Die Wahlen hätten gezeigt, wie beschämend gering die Widerstandskraft des deutschen Volkes gegenüber »pseudopatriotischen Rattenfängereien jener verächtlichen Geschäftspatrioten« sei. Mit seiner wenig später veröffentlichten Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ warb Liebknecht für eine besondere antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie und insbesondere der sozialistischen Jugendorganisationen. Bei den Parteirechten aber auch beim Parteivorsitzenden August Bebel stieß Liebknechts Broschüre auf zum Teil scharfe Ablehnung. Dagegen erkannten die Herrschenden sehr genau, welche Gefahr ihnen durch eine antimilitaristische Agitation der Arbeiterbewegung drohte. Der Kriegsminister ließ daher ein Hochverratsverfahren gegen Liebknecht einleiten, dass im November 1907 mit dessen Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe endete.
Liebknechts Schrift stelle lediglich die Meinung einer »Einzelperson« und nicht die der Gesamtpartei dar, erklärte der neu in den Reichstag gewählte Sozialdemokrat Gustav Noske in seiner von der Fraktion ausdrücklich gebilligten Rede zum Militäretat. Noske, der im Januar 1919 als selbsternannter »Bluthund« für die bestialische Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch rechtsextreme Freikorpsmänner verantwortlich sein sollte, behauptete in der selben Rede eine angebliche Übereinstimmung der sozialdemokratischen Haltung zur Vaterlandsverteidigung mit derjenigen des Kriegsministers: »Wir wünschen, daß Deutschland möglichst wehrhaft ist, wir wünschen, daß das ganze deutsche Volk an den militärischen Einrichtungen, die zur Verteidigung unseres Vaterlandes notwendig sind, ein Interesse hat.«
Laut stenographischem Protokoll wurde Noskes Rede mit lebhaftem Beifall der sozialdemokratischen Fraktion bedacht. Das Gift des Patriotismus, das die Mehrheit der Sozialdemokratie zu Beginn des Ersten Weltkrieges an die Seite der kaiserlichen Regierung führen sollte, hatte Teile der Partei bereits 1907 infiziert.
Mit der Kriegsgefahr befassten sich im Sommer 1907 zwei große internationale Konferenzen. Auf Einladung des russischen Zaren trafen sich in Den Haag vom 15. Juni bis 18. Oktober 1907 Delegierte von 44 Regierungen sowie Vertreter von Nichtregierungsorganisationen zur zweiten Haager Friedenskonferenz. Zwar wurden dort wichtige Resolutionen für ein bis heute gültiges humanitäres Kriegsvölkerrecht vereinbart. Doch am deutschen Einspruch scheiterte bereits im Vorfeld jeder Versuch, das Thema Abrüstung oder Rüstungsbeschränkung auf die Tagesordnung zu setzten. Ebenfalls am deutschen Veto scheitere in Den Haag die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtshofes zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte. Die Haager Konferenz zeigte den Unwillen und vor allem die Unfähigkeit der herrschenden Klassen, die von den Großmächten ausgehende Kriegsgefahr zu bannen.
Einen gänzlich anderen Charakter hatte der Internationale Sozialistenkongresses vom 18. bis 24. August 1907 im Stuttgart.

[Erste Internationale]
Der Sozialistenkongress von 1907 war der zwölfte Kongress der proletarischen Internationale. Die ersten fünf Kongresse fielen in die Zeit der Internationalen Arbeiterassoziation, also der ersten Internationale, in den Jahren 1866 bis 1876 unter der Leitung von Karl Marx. Die erste Internationale war ein lockerer Verband von Organisationen und Individuen verschiedenster politischer Richtungen der Arbeiterbewegung – von reformistischen Gewerkschaftern über Anarchisten bis zu den Anhängern von Marx und Lassalle.
»Indem Marx die Arbeiterbewegung verschiedener Länder zusammenfasste und die verschiedenen Formen des nichtproletarischen, vormarxistischen Sozialismus (…) in die Bahnen gemeinsamen Handelns zu lenken suchte, wobei er die Theorien aller dieser Sekten und Schulen bekämpfte, schmiedete er eine einheitliche Taktik des proletarischen Kampfes der Arbeiterklasse der verschiedenen Länder«, schrieb Lenin.

Der theoretische Kampf für den wissenschaftlichen Sozialismus ging Hand in Hand mit praktischen Beispielen des proletarischen Internationalismus. 1867 organisierte die Internationale Arbeiterassoziation aus den Spenden der Londoner Gewerkschaften einen Solidaritätsfonds für streikende Bronzearbeiter in Paris. Weitere Höhepunkte ihrer Tätigkeit war der Kampf gegen den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und die Solidarität mit der Pariser Kommune, »die intellektuell unbedingt ein Kind der Internationale war«, wie Friedrich Engels deutlich machte. Wachsende Repression gegen die Mitglieder der IAA und Konflikte mit den Anarchisten um Bakunin führten 1872 zur Verlegung des Generalrates nach New York. Als die IAA 1876 offiziell ihre Auflösung verkündete, hatte sie ihre historische Rolle erfüllt und den wissenschaftlichen Sozialismus mit der proletarischen Bewegung verbunden. Sie legte, so Lenin, »den Grundstein der internationalen Organisation der Arbeiter zur Vorbereitung ihres revolutionären Ansturms gegen das Kapital«.

[Die zweite Internationale]
War diese Erste Internationale noch wesentlich ein Zusammenschluss kleiner Propagandazirkel mit dem Ziel, den Marxismus in der Arbeiterbewegung zu verankern, so bildeten sich in den folgenden Jahren in einer Reihe von Ländern sozialistische Parteien und gewerkschaftliche Organisationen. An der Spitze dieser Bewegung stand die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, deren Masseneinfluss trotz des Bismarckschen Sozialistengesetzes beständig wuchs. Bedeutende Streikbewegungen in Österreich, Frankreich, Russland, die Arbeiterkämpfe von Chicago 1886, der englische Docker- und der deutsche Bergarbeiterstreik von 1889 zeigten einen weltweiten Aufschwung der Klassenkämpfe und die Notwendigkeit einer engeren internationalen Zusammenarbeit. Daher vereinbarten Vertreter europäischer sozialistischer Parteien am 28. Februar 1889 in Den Haag die Einberufung eines internationalen Arbeiterkongresses für Juli in Paris. Dieser Kongress gilt als Gründungsakt der zweiten oder sozialistischen Internationale.
Die Internationale habe sich »in allen wesentlichen Punkten von Anfang an und fast kampflos auf den Boden des Marxismus gestellt«, rühmte Lenin später. »Die II. Internationale hat ein historisches Verdienst, weist eine Errungenschaft für immer auf, die der klassenbewußte Arbeiter niemals preisgeben wird: die Schaffung von Massenorganisationen der Arbeiter, von genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus wie aller Einrichtungen der bürgerlichen Demokratie überhaupt.«
Auf den nachfolgenden Kongressen in Brüssel 1891, Zürich 1893, London 1896, Paris 1900 und Amsterdam 1904 erstarkte diese sich auf festgefügte nationale Parteien stützende Internationale endgültig.
Die Bezeichnung Zweite Internationale ist von Historikern geschaffen worden. Ein formeller Beschluss zu ihrer Gründung wurde nicht getroffen. Die Internationale, die unter Bezeichnungen wie Internationaler Arbeiterkongress oder Sozialistenkongress tagte, blieb lange eine lose Vereinigung von Parteien. Die Zusammenarbeit erfolgte über die Presse und persönliche Kontakte führender Sozialisten. Erst 1900 wurde mit dem Internationalen Sozialistischen Büro und seinem ständigen Sekretariat eine bindende Organisationsform geschaffen. Organisatorisch blieb die zweite Internationale keine festgeschlossene Partei, sondern nur eine lose Zusammenkunft völlig unabhängiger Organisationen, die keiner gemeinsamen Disziplin unterstanden, eine einheitliche Taktik für unmöglich hielten, daher auch die gefassten Beschlüsse nicht als bindend betrachteten. Der einzige verpflichtende Beschluss für alle Mitglieder war die Festlegung des 1.Mai als internationalem Kampftag für den Achtstundentag und später auch für den Weltfrieden. Auch programmatisch war die Internationale nicht einheitlich. Nach links gab es die Abgrenzung zu den Anarchisten. Doch die marxistischen Revolutionäre sahen sich einem zunehmend stärker werdenden reformistischen Flügel gegenüber, der sich vor allem auf die Abgeordneten der sozialistischen Parteien und die Gewerkschaftsapparate stützte.

[Stuttgarter Sozialistenkongress 1907]
Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress von 1907 versammelten sich 884 Delegierte von sozialistischen und Arbeiterorganisationen aus 25 Ländern Europas, Asiens, Amerikas, Australiens und Afrikas. Dabei waren so auch Delegierte aus Japan, Indien und Südafrika. Unter den Delegierten waren so bekannte Sozialistinnen und Sozialisten wie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, August Bebel, Jean Jaure und erstmals auch Wladimir Iljitsch Lenin. Zur Eröffnung des Kongresses fand eine Massenkundgebung mit 50.000 Teilnehmern statt.
Die große Bedeutung des Stuttgarter Kongresses besteht darin, dass er die endgültige Festigung der zweiten Internationale und die Umwandlung der internationalen Kongresse in sachliche Tagungen manifestierte.
Im Mittelpunkt der Beratungen standen fünf große Themen:
– Der Militarismus und die internationale Politik
– Die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und den Gewerkschaften
– Kolonialfrage
– Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter
– Frauen-Stimmrecht
[Militarismus]
Die noch nicht lange zurückliegende Marokkokrise hatte die Gefahr eines großen Krieges deutlich ins Bewusstsein gerufen. Wie ein solcher Krieg zu verhindern oder im Falle seines Ausbruchs zu stoppen sei, bestanden großen Differenzen innerhalb der Internationale. Die französischen Sozialisten hatten auf ihrem Parteitag kurz vor dem Stuttgarter Kongress eine Resolution verabschiedet, die im Kriegsfall das Proletariat zum Generalstreik aufforderte. Ein Generalstreik wurde in der Führung der deutschen Sozialdemokratie dagegen als „Generalunsinn“ betrachtet. Die Parteiführer ließen nur eine Ausnahme gelten, in der ihnen dieses Kampfmittel angemessen erschien: nämlich bei einen „Anschlag auf das allgemeine, gleiche direkte und geheime Wahlrecht oder Koalitionsrecht“. Diese Ausnahme war ein Zugeständnis an die Erfahrungen der russischen Revolution von 1905. Im Gegensatz dazu hatten die Gewerkschaften allerdings auf ihrem Kongress 1905 den politischen Massenstreik als anarchistisch abgelehnt.
Die französischen Sozialisten unter Jean Jauré forderten in Stuttgart: „Die Verhütung und Verhinderung des Krieges ist durch nationale und internationale sozialistische Aktionen der Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der parlamentarischen Intervention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik und zum Aufstand zu bewirken.“
Der stattdessen vom deutschen Parteiführer August Bebel vorgelegte Resolutionsentwurf verurteilte zwar den Krieg in deutlichen Worten, sah allerdings keinerlei praktische Schritte oder Konsequenzen zu seiner Verhinderung oder Beendigung vor. Die Waffe, mit der der August Bebel seine „Todfeindschaft“ zum herrschenden System ausdrücken wollte, war die Ablehnung des Haushaltsplans und insbesondere des Militäretats durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Der drohende Krieg sei, so Bebel, der letzte Krieg der bürgerlichen Gesellschaft vor ihrem als unvermeidlich angesehenen Zusammenbruch. „Bis dahin können wir nichts tun als aufklären und Licht in die Köpfe zu bringen und organisieren.“ Ein Generalstreik dagegen gefährde die gesamte Parteiexistenz. Der französische Sozialist Hervé warf den deutschen Sozialdemokraten daher vor, dass sie nur noch „Wahl- und Zahlmaschinen“ sind, eine „Partei mit Mandaten und Kassen“, die mit dem Stimmzettel die Welt erobern wolle.
Im vom Kongress schließlich verabschiedeten Kompromissvorschlag zwischen Deutschen und Franzosen wurden die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften aufgefordert, „alles aufzubieten, um die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern“. Die russischen Sozialisten Lenin und Martow sowie Rosa Luxemburg hatten zudem eine Ergänzung durchgesetzt, die lautete: „Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind [die sozialistischen Parteien] verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“
In dieser Form war die Resolution ein wichtiger Sieg der Linken auf dem Stuttgarter Kongress. Ihr Manko blieb freilich, dass keine konkreten Kampfformen genannt wurden. Auch blieb die Resolution so wie alle Beschlüsse des Kongresses letztlich eine unverbindliche Prinzipienerklärung. Dies zeigte die Zustimmung der Mehrheit der europäischen Sozialisten zu den Kriegskrediten nach Ausbruch des Weltkrieges 1914 überdeutlich.

[Sozialistische Jugendinternationale]
Konsequenter blieb in ihrem Kampf gegen den Krieg die sozialistische Arbeiterjugend. Während des Stuttgarter Sozialistenkongresses riefen 20 Jugendvertreter aus 13 Ländern die Sozialistische Jugendinternationale ins Leben. Die Jugendinternationale hatte den Kampf gegen Krieg und Kriegsgefahr zu ihrem Schwerpunkt gemacht. Daneben setzte sie sich für würdige Arbeitsverhältnisse und gegen die Diskriminierung der arbeitenden Jugend ein. Mit der Wahl Karl Liebknechts zu ihrem Präsidenten stellte sich die Jugendinternationale bewusst hinter dessen antimilitaristisches Programm. Als die sozialdemokratischen Parteien während des ersten Weltkrieges auf die Seite der Vaterlandsverteidigung übergingen, waren es vor allem Aktivistinnen und Aktivisten der Jugendinternationale, die sich weiter um das Banner des proletarischen Internationalismus scharrten und den Grundstein für eine neue, nunmehr kommunistische Internationale legten. Ich meine, dass sich heute die Internationale Union der sozialistischen Jugend, der unter anderem die deutschen Jusos angehören, zu Unrecht in die Tradition der Sozialistischen Jugendinternationale stellt. Wenn die Jusos, die demnächst in Berlin zu einer internationalen Feier ihres angeblich 100. Geburtstages zusammenkommen, es mit dieser Tradition ernst meinen, müssten sie sofort mit den neoliberalen Kriegstreibern der SPD brechen.

[Verhältnis von Parteien und Gewerkschaften]
Schon die Diskussion über Sinn- und Unsinn eines Generalstreiks hatte die Frage nach dem Verhältnis der sozialistischen Parteien zu den Gewerkschaften aufgeworfen. Wer sollte nun im Namen des Proletariats sprechen? Die politische Vertretung der Arbeiterinnen und Arbeiter, oder deren gewerkschaftliche Selbstorganisation? Insbesondere der rechte Flügel der sozialistischen Bewegung, in dem Gewerkschaftsfunktionäre stark vertreten waren, machte sich für die Neutralität der Gewerkschaften stark. Die Hälfte der deutschen Delegation bestand aus Gewerkschaftsvertretern, was sich in ihrem Abstimmungsverhalten auch in anderen Fragen deutlich machte. Diese Funktionäre wollten sich nicht politisch in ihre reformistische Tagesarbeit reinreden lassen. Das andere Extrem einer Verschmelzung von Partei und Gewerkschaft wurde unter anderem von einer Minderheit der belgischen Sozialisten vertreten. Die Kongressresolution verwarf eine angebliche Neutralität der Gewerkschaften und stellte im Allgemeinen und für alle Länder die Notwendigkeit dauerhafter und enger Beziehungen zwischen Gewerkschaften und sozialistischen Parteien fest. Dabei geht es nicht um Befehlen und Unterordnen. Vielmehr sollten sich Sozialistische Parteien und Gewerkschaften untereinander abstimmen und gegenseitig moralisch fördern. Dabei wurde zugleich deutlich gemacht, dass Parteien und Gewerkschaften gleichberechtigte Aufgaben im Emanzipationskampf des Proletariats zu erfüllen haben. In der vom österreichischen Sozialisten Heinrich Beer zur Abstimmung gebrachte Kompromissresolution heißt es: „Zur vollständigen Befreiung des Proletariats aus den Fesseln geistiger, politischer und ökonomischer Knechtschaft ist der politische und wirtschaftliche Kampf der Arbeiterklasse im gleichen Maße notwendig. Obliegt die Organisierung und Führung des politischen Kampfes des Proletariats der Sozialdemokratie, so ist es Aufgabe der gewerkschaftlichen Organisation, den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiterklasse zu organisieren und zu leiten.“
Die Gewerkschaften würden ihre Pflichten im proletarischen Emanzipationskampf nur erfüllen können, wenn sie sich im sozialistischen Geiste leiten ließen, heißt es weiter.

[Kolonialfrage]
Die Kolonialfrage stand nicht zum ersten Mal auf der Agenda eines Sozialistenkongresses. In der Vergangenheit hatten die Beschlüsse der Internationale stets darin bestanden, Kolonialpolitik als Ausplünderungs- und Gewaltpolitik auf das Schärfste zu verurteilen. In Stuttgart dagegen war die entsprechende Kommission von Vertretern des rechten Flügels der sozialistischen Parteien um den Niederländer van Kol dominiert. Van Kol führte aus, dass man sich nicht auf bloße Proteste gegen die Gräuel und Ausplünderung der Kolonien beschränken dürfe, sondern ein positives Reformprogramm für die Kolonien haben müsse. Die Kolonien seien für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung wegen der unentbehrlichen Rohstoffe, als Auswanderungsgebiet für die Überbevölkerung Europas sowie Absatzgebiet der europäischen Industrie notwendig. Den vorliegenden Resolutionsentwurf ergänzte die rechte Kommissionsmehrheit um den Satz: Der Kongress „verwirft nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wird wirken können.“
Für eine „sozialistische Kolonialpolitik“ sprachen sich im Namen der deutschen Delegation auch die bekannten Vertreter des rechtern Parteiflügels David und Bernstein aus. Sie bezeichneten die ablehnende Haltung der Linken gegenüber jeglichen Kolonialismus als unfruchtbaren negativen Standpunkt. Die Linksradikalen hätten kein Verständnis für die Bedeutung von Reformen und könnten daher kein praktisches Kolonialprogramm vorweisen. Bernstein erklärte eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber den angeblichen Nichtkulturvölkern für eine Notwendigkeit und David sprach sich für eine Kulturmission der kapitalistischen Länder aus, um die Kolonien vor dem Rückfall in die Barbarei zu schützen. In der Kommission stieß diese Haltung – die wir heute bei vielen ehemaligen Linken, Grünen oder Sozialdemokraten gegenüber Iran, Irak oder Afghanistan finden – unter anderem auf den scharfen Widerspruch des deutschen Delegierten Georg Ledebour sowie der polnischen und russischen Sozialdemokraten.
Karl Kautsky, der Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie, appellierte an den Kongress, sich gegen die Mehrheit der deutschen Delegation auszusprechen. Kautsky machte deutlich, dass die heutige Kolonialpolitik zur Diskussion stände. Diese aber fuße auf direkter Knechtung der Wilden. Die Bourgeoisie führe in den Kolonien faktisch die Sklaverei ein. Sie setzte die Einheimischen Misshandlungen und Vergewaltigungen aus und „zivilisiere“ sie durch die Verbreitung von Schnaps und Syphilis. In dieser Situation von der prinzipiellen Möglichkeit der Ankerkennung von Kolonialpolitik zu sprechen, sei ein Übergang zum bürgerlichen Standpunkt. Dies sei ein Schritt zur Unterordnung des Proletariats unter die Ideologie des Imperialismus.
Der kolonialistische Resolutionsentwurf wurde auf dem Stuttgarter Kongress mit 128 gegen 108 Stimmen bei Enthaltung der Schweizer Delegierten zu Fall gebracht. Die Delegationen der kleineren Nationen, die entweder keine Kolonialpolitiktrieben oder sogar unter ihr litten, überwogen zahlenmäßig diejenigen Staaten, die sogar das Proletariat mit der Sucht nach kolonialen Eroberungen angesteckt hatten. Doch die vergleichsweise knappe Abstimmung zeigte, wieweit das Gift des Opportunismus schon in die sozialistische Internationale eingedrungen war. Die Kolonialpolitik der Großmächte hatte dazu geführt, dass Teile der Arbeiterklasse mit Extraprofiten aus den Kolonien bestochen werden konnten. Dies war die materielle Basis für den Kolonialchauvinismus auch unter Arbeiterinnen und Arbeiter.
Heute erleben wir einen neuen Kolonialismus insbesondere im Nahen und Mittleren Osten, auf dem Balkan und in Teilen Afrikas. Wieder geht es angeblich um die Verbreitung der Zivilisation. Und wieder knicken Teile der Linken ein, wenn es etwa um angeblich friedensstiftende UN-Blauhelmeinsätze geht. Wer solche Einsätze – wie die Mehrheit der Partei Die Linke – klar ablehnt, muss sich selbst in dieser Partei von einigen Genossen einen unfruchtbaren negativen Standpunkt vorwerfen lassen. Ein führender Vertreter der Linkspartei lobte gar die gute Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan. Auch heute sollten Sozialistinnen und Sozialisten die rassistische Anmaßung zurückweisen, dass am deutschen, europäischen oder US-amerikanischen Wesen die Welt genesen wird.

[Migration]
Die Haltung der Arbeiterbewegung zur Arbeitsmigration war und ist die Kehrseite ihrer Haltung gegenüber dem Kolonialismus. Darauf hatte Clara Zetkin nach dem Stuttgarter Kongress hingewiesen. So kam es in Stuttgart auch in der Migrationsfrage zu Auseinandersetzungen zwischen Revolutionären und Reformisten.
Insbesondere Vertreter der Gewerkschaften wollten die Ein- und Auswanderung einer „weisen Beschränkung“ unterworfen sehen. Man sei zwar gerne bereit, fremde Einwanderer aufzunehmen und mit „unserer Kultur“ zu erfüllen erklärte der deutsche Delegierte Päplow. Doch es bestehe die Gefahr des Massenimports und der Einfuhr Kulis genanter Tagelöhner insbesondere in der Schifffahrt, der Landwirtschaft und dem Bergbau. „Unmöglich können wir zugeben, dass in Ländern mit hochentwickelter Arbeiterbewegung die Errungenschaften jahrzehntelanger politischer und gewerkschaftlicher Organisation mit einem Schlage illusorisch gemacht werden durch Masseneinwanderung fast völlig bedürfnisloser Arbeiter“, warnte der deutsche Delegierte vor einem Zustrom von Billiglohnarbeitern.
„Das ist durchaus unsozialistisch“, kritisierte Julius Hammer von der Sozialistischen Arbeiterpartei der USA einen Resolutionsentwurf zur Beschränkung der Einwanderung japanischer und chinesischer Arbeitern. „Eine gesetzliche Beschränkung der Einwanderung muss verworfen werden. Auf gesetzgeberischem Wege durch Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien kann für den Sozialismus nichts erreicht werden.“ Auch Japaner und Chinesen lernten den Kapitalismus sehr wohl kennen und bekämpfen und können sehr gut organisiert werden. „Ich bitte Sie, in keine gesetzlichen Beschränkungen der Ein- und Auswanderung einzuwilligen. Wir müssen eine große Nation der Ausgebeuteten bilden“, appellierte der US-Sozialist an den Kongress.
Bei der Beschlussfassung konnte sich die rechte Minderheit noch nicht durchsetzen. Stattdessen sprach sich der Kongress für die Abschaffung aller Beschränkungen aus, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen. Als Zugeständnis an die reformistische Forderung vom »Schutz der heimischen Arbeiter« wurde dagegen ein Verbot für die Aus- und Einreise von Arbeitern verlangt, die einen Kontrakt geschlossen hatten, der ihnen die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft und ihre Löhne nahm. Dies betraf beispielsweise Hunderttausende damals in der deutschen Landwirtschaft beschäftigte polnische Arbeiter, die vor ihrer Einreise einen für einen bestimmten Unternehmer geltenden Vertrag mit festgelegten Löhnen unterschreiben mussten.

»Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter Proletariern einiger ›zivilisierter‹ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen«, geißelte Lenin in seinem Bericht über den Sozialistenkongress anschließend die »zünftlerische und spießbürgerliche Beschränktheit« des noch einmal zurückgewiesenen Rufes nach Zuwanderungsbeschränkungen.
Die Aktualität dieser Debatte liegt auf der Hand. Für parteiübergreifenden Wirbel sorgte so im Juni 2005 eine Rede Oskar Lafontaines auf einer Arbeitslosenkundgebung in Chemnitz. »Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet zu verhindern, daß Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.«
Die Kritik von Lafontaines Gegnern drehte sich vor allem um den auch von den Nazis verwendeten Ausdruck »Fremdarbeiter«. Seine Forderung nach Schutz einheimischer Arbeit durch staatliche Reglementierungen blieb weitgehend unwidersprochen. Die Frage »offene Grenze« oder »staatliche Einwanderungskontrollen« spaltet auch im Zeitalter der Globalisierung weiterhin die Linke und die Gewerkschaftsbewegung in Internationalisten und Anhänger eines nationalen Reformismus. Dass die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Zugewanderten und Einheimischen eine Notwendigkeit des Klassenkampfes ist, verdeutlichte Karl Liebknecht wenige Wochen nach dem Stuttgarter Sozialistenkongress auf dem Essener Parteikongreß der deutschen Sozialdemokaten: »Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, daß die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein.«
Daran sollten wir uns auch heute orientieren. Das bedeutet, gleiche Rechte für alle, die hier leben zu fordern und für Mindestlöhne auf europäischer Ebene einzutreten.

[Frauenwahlrecht]

Bereits einen Tag vor Beginn des Sozialistenkongresses hatten sich 58 Delegierte aus 15 Ländern in der Stuttgarter Liederhalle zur I. Internationale Sozialistische Frauenkonferenz versammelt. Prominente Teilnehmerinnen waren Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und die Russin Alexandra Kollontai. Diese Konferenz wurde von Clara Zetkin stark geprägt. Sie war zu dieser Zeit bereits eine anerkannte Theoretikerin in der deutschen und internationalen Arbeiter- und Frauenbewegung. Ein Schwerpunkt des Kongresses war der Kampf um das Frauenwahlrecht. Die Frauen forderten politische Partizipation, doch das Wahlrecht sollte kein Selbstzweck sein. Hierzu machte Clara Zetkin deutlich: „Durch das Wahlrecht werden nicht all die sozialen Hemmnisse beseitigt, welche für die freie, harmonische Lebensentwicklung und Lebensbestätigung des weiblichen Geschlechts bestehen. Denn es rührt nicht an die tiefsten Ursachen desselben: an das Privateigentum, in welchem die Ausbeutung und Unterdrückung eines Menschen durch einen anderen Menschen wurzelt. Für uns Sozialistinnen kann daher das Frauenwahlrecht nicht das Endziel sein.“
Auch auf dem Sozialistenkongress selber stand das Frauenwahlrecht zur Diskussion. Die Delegierten sprachen sich dafür aus, dass die Frauen den Wahlrechtskampf nicht gemeinsam mit bürgerlichen Frauenrechtlerinnen sondern zusammen mit den Klassenparteien des Proletariats führen sollten. Der Kongress erkannte an, dass es in der Kampagne für das Frauenwahlrecht notwendig sei, die sozialistischen Prinzipien und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in vollem Umfang zu vertreten. Diese Prinzipien dürften nicht durch irgendwelche Zweckmäßigkeiten verwässert werden. Letzterer Punkt zielte insbesondere auf die österreichischen Sozialdemokraten. Deren Vertreter Victor Adler und Adelheid Popp hatte erklärt, aus taktischen Erwägungen zuerst nur für das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Männer zu kämpfen und das Frauenwahlrecht bei der Agitation nicht in den Fordergrund zurücken. Dagegen hatte sich die deutsche Sozialistin Luise Zietz auf der Frauenkonferenz deutlich ausgesprochen: „Wir müssen prinzipiell alles fordern, was wir für richtig halten“, sage sie, „und nur, wenn unsere Macht nicht weiter richt, nehmen wir das, was wir bekommen können. So ist die Taktik der Sozialdemokratie gewesen. Je bescheidener unsere Forderungen sind, desto bescheidener wird die Regierung in ihrer Bewilligung sein.“
Das auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress ein starker linker Flügel vertreten war, lag insbesondere auch an kämpferischen Sozialistinnen wie Luise Zietz.

[Resümee]

Noch einmal war es dem marxistischen linken Flügel in Stuttgart gelungen, in allen wesentlichen Fragen die Mehrheit zu erringen. Doch insbesondere in der Kolonial- und Migrationsfrage zeigte sich bereits ein starker opportunistischer Block, der in den folgenden Jahren endgültig dominant werden sollte. Deutlich wurde in der Debatte über den Kampf gegen die Kriegsgefahr das Einknicken vormals linksstehender Sozialdemokraten wie August Bebel, denen Parlamentssitze nun mehr bedeuteten, wie der außerparlamentarische Kampf. Die weitere Entwicklung der internationalen Sozialdemokratie zu einer zunehmend verbürgerlichten Arbeiterpartei, die am Ende dem Krieg zustimmen sollte, zeichnete sich bereits deutlich ab.
Doch ebenso deutlich wurde die Existenz einer Minderheit konsequenter Revolutionärinnen und Revolutionäre wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg oder Lenin, die nicht bereit waren, in den entscheidenden Fragen von Krieg und Frieden Zugeständnisse zu machen. Diese revolutionäre Minderheit nahm im Gegensatz zur Mehrheit der Sozialdemokraten die Stuttgarter Resolution ernst, im Kriegsfalle die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen. Davon zeugt die sich in diesem Jahr zum 90.Mal jährende russische Oktoberrevolution ebenso wie die deutsche Novemberrevolution.

Die meisten der vor 100 Jahren in Stuttgart aufgeworfenen und lebhaft diskutierten Fragen haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Die Probleme – Krieg und Imperialismus, Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Werktätigen, Entrechtung von Frauen und Migranten – beschäftigen uns weiterhin. Die in Stuttgart gefundenen Antworten sind es wert, 100 Jahre später von Sozialistinnen und Sozialisten und Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern kritisch auf ihre Brauchbarkeit überprüft zu werden. Die geschichtliche Erfahrung ist dafür hilfreich. Während für August Bebel Generalstreik noch Generalunsinn war, hat sich Oskar Lafontaine bei der Gründung der LINKEN ausdrücklich für das Recht auf ein solches Kampfmittel ausgesprochen. Daran sollten wir anknüpfen.

Sozialistenkongress_Stuttgart.pdf