Rotlicht: Flucht/Migration

von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 14.04.2021)

 

An der vermeintlich trennscharfen Unterscheidung zwischen Flucht und Migration wird im Diskurs von herrschender Politik und bürgerlicher Presse hartnäckig festgehalten. Dabei ist diese Vereinfachung den vielfältigen und komplexen Gründen und Lebensrealitäten von Menschen, die beschließen (müssen), ihre Heimat zu verlassen, noch nie gerecht geworden. Auch im internationalen Flüchtlingsrecht wird der Begriff »Migration« häufig vom Begriff »Flucht« abgegrenzt. Ein Flüchtling ist demnach, wer gezwungen sei, seinen Wohnort zu verlassen. Ein Migrant hingegen tue dies freiwillig. Die Realität ist um ein Vielfaches komplexer.

Die Unterteilung in »Flüchtlinge« und »Migranten« im Kontext der Asyl- und Einwanderungspolitik dient gemeinhin dem Zweck der Begrenzung und Kontrolle von Migration. Allein aus dem globalen Süden in Richtung globaler Norden, wohlgemerkt. Die Gründe von Menschen, die aus sogenannten ökonomischen Gründen – also vielfach aus materieller Not – oder aufgrund von Perspektivlosigkeit ihre Heimat verlassen, werden damit delegitimiert. Sie werden zu »Illegalen« erklärt, die schnell abgeschoben werden müssen.

Dabei sind sowohl Armut und Perspektivlosigkeit als auch bewaffnete Konflikte oftmals das Ergebnis ungerechter Wirtschafts- und Handelsstrukturen, von denen die reichen Staaten im globalen Norden profitieren. Und Migration ist vielfach eine Reaktion auf den Neokolonialismus, auf die Ausbeutung von Ressourcen samt Umweltzerstörung und Landraub durch ausländische Großkonzerne, aber auch eine Folge von wirtschaftlichen Sanktionen und von außen angezettelten Bürgerkriegen zum Sturz unbequemer Regierungen. Vor diesem Hintergrund geht eine Unterscheidung in Migranten, die »nur« aus ökonomischen Gründen ihre Heimat verlassen, und solchen, die vermeintlich »echte« Fluchtgründe wie politische Verfolgung, Krieg oder Bürgerkrieg vorzuweisen haben, völlig fehl.

Durch tödliche Abschottungspolitik – man denke an die Tausenden Toten im Mittelmeer – versucht der globale Norden mit allen erdenklichen Mitteln, die eigene imperiale Lebensweise aufrechtzuerhalten und seine Verantwortung für Krisen weltweit zu verschleiern.

Unerwünschte Einwanderer werden als »Illegale« zu Kriminellen erklärt und im großen Stil abgeschoben – selbst inmitten einer Pandemie. Darunter sind alte oder kranke Menschen, die das Kapital nicht profitbringend verwerten kann. So starb der 64jährige Sali Krasniqi, der seit 29 Jahren in Deutschland lebte, kurze Zeit nach seiner Abschiebung vergangenen Oktober in den Kosovo aufgrund fehlender gesundheitlicher Versorgung.

Das europäische Grenzregime betreibt Rosinenpickerei, was die Auswahl zukünftiger Arbeitskräfte angeht. Das kapitalistische Profitstreben steht dabei an erster Stelle: Während in Deutschland anerkannte Flüchtlinge trotz des Rechts auf Familiennachzug zum Teil jahrelang darauf warten müssen, dass ihre Kinder oder ihr Partner nachkommen können, erhalten Arbeitssuchende mit formal hoher Qualifikation nach dem deutschen Fachkräfteeinwanderungsgesetz innerhalb weniger Wochen ein Visum.

Gleichzeitig verhindert die Kriminalisierung von Migration selbige nicht in Gänze – und das soll sie auch nicht. Denn insbesondere Migranten mit unsicherem Aufenthaltsstatus und selbst Illegalisierte sind in einigen Branchen willkommene, weil weitgehend rechtlose und daher billige Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das Grenzregime spaltet die Arbeiterklasse so auch im Inland. Denn die Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte ohne Rechtsstatus trägt zur Aufweichung sozialer Arbeitsstandards und zur Lohndrückerei bei. Eine linke Migrationspolitik sollte internationalistische Klassensolidarität an erste Stelle setzen. Der Feind ist nicht die Migration, sondern der Kapitalismus.