Artikel: Déjà vu

Aufmarsch der Heuchler

Von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 27.08.2015)

SPD-Chef Sigmar Gabriel machte den Anfang. Es folgten Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Besuchen in Flüchtlingseinrichtungen. Einigkeit herrscht unter ihnen, dass es sich bei den gewaltsamen Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen um eine »Schande« für »unser Land« handele. Doch tatsächlich hat die Bundesregierung die jetzige Situation sehenden Auges heraufbeschworen. Steigende Flüchtlingszahlen waren absehbar. Doch weder wurden rechtzeitig ausreichend Unterkünfte geschaffen, noch ein Finanzierungskonzept des Bundes für die mit den Organisationsproblemen alleingelassenen Kommunen vorgelegt. Statt dessen übt sich die Bundesregierung in populistischen Scheindebatten über »richtige« und »falsche« Flüchtlinge.

Jahrelang rechtfertigten CDU-Politiker die Nichtunterstützung des laufenden NPD-Verbotsverfahrens damit, dass die Neonazipartei aufgrund immer schlechterer Wahlergebnisse in der Bedeutungslosigkeit versinke. Doch wenn in Heidenau und anderorts scheinbar normale Bürger in neofaschistische Parolen wie »Deutschland den Deutschen« einstimmen und das Horst-Wessel-Lied mitsingen, beweist sich darin die Existenz eines völkischen Milieus. Gerade in Sachsen wurde die NPD, die dort zwei Legislaturperioden im Landtag vertreten war, vielfach als »normale« Partei behandelt. Ohne größeren Widerstand konnten die NPD-Kader sich in kommunalen Gremien, Elternbeiräten, Schützenvereinen und bei der Freiwilligen Feuerwehr breitmachen. Ignoranz zeigten Bundes- und Landesregierung auch gegenüber der rassistischen Pegida-Bewegung, deren Umzüge als »islamkritischer Protest« von »besorgten Bürgern« verharmlost wurde. Diese braune Saat geht nun auf – in Heidenau und andernorts.

Die Verharmlosung der Neonazis durch die Bundesregierung ist das eine. Nur in den allerwenigsten Fällen wird sich eine direkte Verbindung zwischen der NPD und Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte nachweisen lassen. Auch in Regionen, in denen diese Partei kaum vertreten ist, kommt es zu fremdenfeindlichen Protesten. Der Verweis auf Neonazis lenkt hier von der Tatsache ab, dass es gerade aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu fremdenfeindlichen Manifestationen kommt. Es ist nicht nur die offen faschistische Hetze der Neonazis, die brave Bürger dazu ermutigt, Feuer an Notunterkünften für Flüchtlinge zu legen, sondern gerade auch die Stimmungsmache der Bundesregierung gegen sogenannte Asylbetrüger.

 Es erscheint wie ein Déjà-vu-Erlebnis: Als Anfang der 90er Jahre die Asylheime brannten, gaben sich Spitzenpolitiker der sogenannten Volksparteien die Türklinke in den Unterkünften in die Hand. Eben jene Politiker hatten zuvor von der »Asylantenflut« und dem »Boot, das voll ist« schwadroniert. Die Konsequenzen dieser Propaganda, die hässlichen Bilder von randalierenden Neonazis und brennenden Flüchtlingsquartieren, wollten die Stichwortgeber des völkischen Mobs nicht sehen.

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag