Kommentar: Über Leichen

Die Regierung in Rom hat das seit über einem Jahr laufende Rettungs- und Hilfsprogramm für Flüchtlinge im Mittelmeer »Mare Nostrum« (Unser Meer) beendet, weil Italien keine Unterstützung von anderen EU-Staaten erhielt. Neun Millionen Euro monatlich waren der EU ein zu hoher Preis, um Tausende Menschenleben zu retten. Die italienische Regierung spricht von 120.000 Bootsflüchtlingen, die in einem Jahr durch »Mare Nostrum« gerettet werden konnten. Mehr als 3.000 Menschen sind seit Januar 2014 dennoch auf ihrer Flucht nach Europa ertrunken. Ganz offen bestätigt Brüssel, dass die Ausweitung des Frontex-Mandats »Triton« nur der Grenzschutzsicherung dient – also der Abschottung der 30 Seemeilen entlang der EU-Außengrenzen. Das Einsatzgebiet von »Mare Nostrum« erstreckte sich dagegen bis an die nordafrikanische Küste.

Zum Umgang mit Migrationsströmen hatte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Anfang Oktober einen Brief an die EU-Kommission gerichtet. Dieser enthält keinen Vorschlag zur grundlegenden Revision der Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU. Die freiwillige Übernahme von Flüchtlingen aus überforderten EU-Erstaufnahmeländern wie z. B. Griechenland oder Italien erfolgt nur unter der Bedingung, dass diese ihren Verpflichtungen nachkommen – insbesondere der zur Abnahme von Fingerabdrücken und deren Speicherung in der dafür vorgesehenen Datenbank EURODAC. Im übrigen wirkt das Schreiben wie eine Wiederholung des Immergleichen und wie eine Betonung der repressiven Elemente der EU-Asylpolitik. Vor allem fehlt in dem Brief jede Überlegung dazu, wie Schutzsuchende überhaupt die EU sicher erreichen können und wie das Massensterben im Mittelmeer beendet werden kann. Statt dessen wird »Mare Nostrum« nun durch die Frontex-Nachfolgeoperation »Triton« ersetzt, die sehenden Auges wieder zu mehr Toten führen wird. Schließlich kostet sie ja auch nur drei Millionen Euro pro Monat.

Erinnern wir uns: Erst im Oktober wurde der Toten von Lampedusa salbungsvoll gedacht. Cecilia Malmström, damals zuständige EU-Kommissarin, kritisierte etwa die Untätigkeit einiger EU-Staaten als »Schande«. Europa müsse offenbleiben für Schutzsuchende, erklärte sie – ohne den Widerspruch zu der von ihr zu verantwortenden EU-Politik aufzulösen, die Schutzsuchenden alles andere als offene Wege in die EU anbietet. António Guterres vom Flüchtlingshilfswerk der UNO (UNHCR) erklärte, wenn Europa weiter versage, würden sich Unglücke wie jenes vor Lampedusa wiederholen. Richtig hätte es heißen müssen: Das Massensterben hat sich bereits wiederholt, weil Europa versagt hat! Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärte: »Jedes verlorene Leben ist ein Schandfleck für unsere Zivilisation« – Protestierende auf Lampedusa riefen während seiner Rede: »Das ist eine Farce, ihr seid die Schuldigen, ihr seid die Mörder!«