Artikel: Skrupelloser Schuldner

Welche Doppelstrategie die Bundesrepublik Deutschland gegenüber bestimmten Gruppen von Opfern der Nazis fährt, führte Anfang März dieses Jahres Bundespräsident Joachim Gauck in Griechenland eindrücklich vor Augen: Im Dorf Lyngiades bat er öffentlich um Verzeihung für ein von der Wehrmacht im Jahr 1943 verübtes Massaker. Es war das erste Mal, daß ein hochrangiger deutscher Politiker dort auftrat – eine begrüßenswerte, wenn auch längst überfällige, Geste. Einerseits. Andererseits wurde Gauck während seines Besuches darauf angesprochen, daß Deutschland noch keine Entschädigung für die Naziverbrechen geleistet habe – und da reagierte der deutsche Präsident unversöhnlich mit den Worten: »Sie wissen, daß ich darauf nur so antworten kann, daß ich meine, der Rechtsweg ist abgeschlossen.« Diesen Ansatz verfolgt die Bundesregierung auch gegenüber Italien: Nachdem italienische Gerichte auf Antrag von Opfern Deutschland zu teils millionenschweren Entschädigungszahlungen verurteilt hatten, zog die Bundesregierung vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der 2012 die italienischen Urteile kassierte. Gleichzeitig hat Berlin die Förderung von Erinnerungsprojekten angekündigt. Kurz gefaßt: öffentliches Erinnern wird von der Bundesregierung befürwortet, Entschädigungen werden verweigert. Denkmäler für die Toten ja, Wiedergutmachung für die (Über-)Lebenden nein.

Mittel der Außenpolitik

Nach Auffassung der Bundesregierung sind Entschädigungsforderungen aus Ländern, die früher von den Nazis besetzt waren, heute nicht mehr berechtigt. Eigentlich waren sie es nie: Früher wurden sie verschoben, heute als »geklärt« abgetan. 1953 wurde bei der Londoner Schuldenkonferenz vereinbart, daß sämtliche Forderungen an Deutschland »bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt« werden. Dieses Moratorium wurde über Jahrzehnte gewährt – das sollte man berücksichtigen, wenn man heute Opfer nazideutscher Kriegstaten dafür kritisieren will, daß sie erst »so spät« ihre Ansprüche geltend machten.

Aus Sicht der Bundesregierung gibt es heute überhaupt keine offenen Fragen mehr: »Alle Bundesregierungen seit 1949 waren sich ihrer Verantwortung gegenüber Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bewußt und haben sich nach Kräften und mit Erfolg bemüht, für das von den Nationalsozialisten begangene Unrecht zu entschädigen«, antwortete sie etwa im März 2012 auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion.

Zwar hat es Entschädigungen gegeben, insbesondere Holocaust-Überlebende haben Leistungen erhalten. Aber ganze Opfergruppen sind auch 70 Jahre nach Kriegsende noch ohne Wiedergutmachung geblieben. Die deutsche Generallinie war von Anfang an: Entschädigung gibt es dann, wenn die Betreffenden eine Lobby haben oder es aus außenpolitischen Gründen opportun ist. So verpflichtete sich die BRD schon 1952 zur Zahlung von drei Milliarden DM an Israel und von 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference. Damit wollte die Adenauer-Regierung die BRD in die westliche Staatenwelt integrieren. Eine ähnliche Motivation lag den im Laufe der 1960er Jahre erfolgten »Globalabkommen« mit elf westlichen Staaten zugrunde. Um zu vermeiden, daß eine rigorose Verweigerungshaltung politischen Imageschaden herbeiführt und zugleich die Anerkennung einer Rechtspflicht auszuschließen, bot die Bundesregierung »freiwillige« Zahlungen im Rahmen bilateraler Verträge an. Italien erhielt damals 40 Millionen DM, Griechenland 115 Millionen. Zusammengenommen sind an westliche Staaten nach Angaben des Bundesfinanzministeriums rund 971 Millionen DM gezahlt worden. Nach 1990 folgten »Versöhnungsstiftungen« in osteuropäischen Staaten, die mit insgesamt 1,6 Milliarden DM ausgestattet wurden. Diese Summen entsprachen nicht dem angerichteten Schaden, sondern waren das Ergebnis politischer Verhandlungen, also Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse.

Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG; damals wurde es als Bundesergänzungsgesetz beschlossen) eröffnete ab 1953 darüber hinaus die Möglichkeit individueller Wiedergutmachungen – allerdings mit zwei gravierenden Einschränkungen: Zum einen galt es nur für Verfolgte, die ihren Wohnsitz im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 sowie in den deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa hatten – im wesentlichen also für deutsche Staatsbürger bzw. »Volksdeutsche«, obwohl diese nur rund zehn Prozent der Opfer der Nazibarbarei ausmachten. Zum anderen sah das BEG nur Entschädigung für »NS-typische« Verfolgungsmaßnahmen vor – was das ist, unterliegt bis heute wechselnden politischen Definitionen und finanziellen Interessen.

So galt bis in die 1990er Jahre hinein die Verschleppung zur Zwangsarbeit als allgemeines Kriegsschicksal, nicht aber als faschistisches Unrecht, das zu einer Entschädigung berechtige. Ebenso faktisch von einer Antragstellung ausgeschlossen waren jahrzehntelang verfolgte Homosexuelle, Deserteure, »Arbeitsscheue« »Arbeitsverweigerer«, »Asoziale«, »Wehrkraftzersetzer«, »Kriminelle«, »Landstreicher« und andere Opfergruppen. Denen wurde in den 1960er noch unter die Nase gehalten, daß ihr Verhalten auch in einem »Rechtsstaat« kriminell sei und sie also von den Nazis keineswegs zu Unrecht verfolgt worden seien. Das betraf insbesondere viele überlebende Sinti und Roma. Opfer von Zwangssterilisation wurden ebenfalls nicht als Verfolgte des Naziregimes anerkannt. Als sich – meist in den 1990er Jahren – diese Auffassung änderte, war die Frist für Anträge nach dem BEG schon längst abgelaufen. Mit etwas Glück konnten sie »Härtefall-Leistungen« beantragen (entweder Einmalzahlungen oder monatliche Leistungen, letztere entwickelten sich von knapp 100 DM auf derzeit maximal 291 Euro) – aber diese Möglichkeit gibt es ausdrücklich nur für deutsche Staatsbürger bzw. »Volkszugehörige«, und auch das nur, wenn sie in Deutschland leben. Wer dem Land seiner Peiniger den Rücken zugewandt hat, geht leer aus.

Den Opfern von Wehrmachts- und SS-Massakern hat das BEG gar nichts gebracht – sie leben außerhalb Deutschlands, sind meist Nichtdeutsche, und die Massaker gelten nicht als »NS-typisches« Unrecht, mit der durchaus denkwürdigen Begründung, daß sie sich ja unterschiedslos gegen alle Einwohner einer Ortschaft richteten und nicht nur gegen Juden oder Kommunisten. Eine Kriegshandlung also – zwar verbrecherisch, das wird durchaus eingeräumt, aber keinen Entschädigungsanspruch begründend. Aus dem gleichen Grund haben diese Menschen auch keinen Anspruch auf einen Teil der »Globalzahlungen« gehabt, die gingen ja auch nur an Opfer »NS-typischer« Verbrechen.

Opportunitätsprinzip

Ehemalige Zwangsarbeiter hatten da mehr Erfolg. Ursprünglich wollte die Bundesregierung ihnen auch nichts geben – aber sie hatten eine Lobby, genauer: Sie konnten damit drohen, notfalls vor US-amerikanischen Gerichten Massenklagen gegen deutsche Unternehmen zu führen, die im Dritten Reich von ihrer Sklavenarbeit profitiert hatten. Diese Klagen hätten nicht nur zu immensen Schadenersatzurteilen führen können, sondern, für die Unternehmer ebenso bedrohlich, einen gewaltigen Imageverlust auf dem US-Markt bedeutet. Aus diesem und keinem anderen Grund kam es dann zu Verhandlungen, in deren Ergebnis die mit zehn Milliarden D-Mark ausgestattete Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« entstand. Das Geld kam zu drei Vierteln von den Steuerzahlern, nur zu einem Viertel von der Wirtschaft. Die USA versprachen dafür »Rechtssicherheit«, d.h.: Überlebenden wurde in den USA die Möglichkeit genommen, den verweigerten Lohn vor Gericht einzuklagen. Als Höchstleistung gab es für ehemalige Zwangsarbeiter knapp 7500 Euro. Auch hierbei gab es willkürlich anmutende Ausnahmen, so wurden die damals noch rund 100000 lebenden Italienischen Militärinternierten ausgenommen.

Ausgeschlossen blieben auch Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft oder in Haushalten eingesetzt worden waren. In einigen Ländern wurden von den dortigen Partnerorganisationen der Stiftung zwar auch diese Zwangsarbeiter entschädigt, die Beträge wurden dann aber aus dem Topf für die Zwangsarbeiter in der Industrie entnommen.

Ein weiteres Manko sind die Fristen. Die Betroffenen hatten gerade mal drei Jahre Zeit für die Antragstellung: vom 1.1.1999 bis zum 31.12.2001. Anträge, die in den 54 Jahren davor gestellt worden waren, wurden abgelehnt, weil es noch keine gesetzliche Grundlage gegeben hatte. Anträge, die ab 2002 gestellt wurden, wurden ebenfalls abgelehnt, weil sie »zu spät« kamen.

Kriegsgefangene hatten generell keinen Anspruch auf Zwangsarbeiterentschädigung. Das entspricht einerseits der völkerrechtlichen Gewohnheit, daß jeder Staat Kriegsgefangene zur Arbeit zwingen darf. Andererseits wird es dem konkreten Schicksal insbesondere der sowjetischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft nicht im mindesten gerecht. Kriegsgefangenschaft begründet auch einen Anspruch auf gewisse Schutznormen und Mindeststandards, die aber von den Nazis ganz bewußt verletzt worden waren. Von rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben rund 3,3 Millionen – und das nicht, weil die Wehrmacht sie nicht hätte versorgen können, sondern weil sie es nicht wollte. Sie ließ sie verhungern, verweigerte ihnen medizinische Behandlung und angemessene Unterkunft. Sie mußten Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten – auch das völkerrechtswidrig. Von allen Gefangenengruppen ging es den sowjetischen am schlechtesten, weil sie in der rassistischen Hierarchie der Nazis ganz unten standen, nur knapp »über« Juden sowie Sinti und Roma. Die Linksfraktion hat schon mehrfach Entschädigung für diese Opfergruppe gefordert, vergebens. In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislaturperiode hatte die SPD einen Antrag auf Entschädigung eingebracht, über den nicht mehr abgestimmt wurde. Jetzt ist die SPD in der Regierung – und auf Anfrage der Linksfraktion bestätigte diese vor wenigen Wochen, daß sie keine Initiativen zur Entschädigung der heute noch maximal 2000 lebenden ehemaligen gefangenen Rotarmisten entfalten wolle.

Worauf stützt sich die Bundesregierung bei ihrer Auffassung, die Entschädigungsfrage sei bereits »mit Erfolg« gelöst, alle weiteren Forderungen seien gegenstandslos?

Nach ihrer Lesart erfolgte die endgültige Erledigung sämtlicher ausländischer Reparationsansprüche mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990. Dieser enthält »die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«. Im Verständnis der Bundesregierung wurde damit auch die Reparationsfrage abgeschlossen: »Die Bundesregierung hat den 2+4-Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, daß Reparationsforderungen ihre Berechtigung verloren haben und neue Kriegsfolgenregelungen nicht mehr verlangt werden können«, gab sie schon 1999 auf eine Anfrage der PDS zur Auskunft. Tatsächlich enthält der Vertrag Vereinbarungen über die Anerkennung von Staatsgrenzen, militärische Details und den Verzicht auf alliierte Souveränitätsrechte. Über das Ende oder das Weiterbestehen von Reparationspflichten steht nichts darin. Dennoch hat sich der Bundesgerichtshof im Jahr 2003 der Auffassung der Bundesregierung angeschlossen.

Nun war Griechenland an diesem Vertrag aber nicht beteiligt, er kann daher für das Land keine bindende Wirkung haben. Das bestätigt auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages (WD), der bereits im vergangenen Sommer die Rechtsauffassung der Bundesregierung geprüft hat – und zum Ergebnis kam, daß diese mindestens zweifelhaft ist.

Die Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes sind keine Rechtsgutachten im eigentlichen Sinn, sie fassen aber den aktuellen Stand etwa der Rechtsprechung und -wissenschaft zusammen. Sie versuchen dabei, möglichst neutral zu bleiben – in diesem Fall macht das die Ausführungen gerade interessant, weil sie nicht im Verdacht stehen, einseitig »progriechisch« zu sein. Das Gutachten wird trotz mehrfacher Anfragen, offiziell aus Gründen des Urheberrechtsschutzes, bis heute unter Verschluß gehalten, so daß direkte Zitate daraus nicht möglich sind.

Keine »abschließende Regelung«

Zu den wichtigsten Argumenten der Bundesregierung gehört die Behauptung, Griechenland selbst habe dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich zugestimmt und damit selbst auf jegliche Reparationsansprüche verzichtet. Dabei beruft sie sich auf die Charta von Paris, in der die Teilnehmerstaaten der KSZE im November 1990 einstimmig »mit großer Genugtuung Kenntnis« vom Zwei-plus-Vier-Vertrag genommen haben. Der Wissenschaftliche Dienst kommt hier zur Einschätzung, daß es zwar einerseits möglich sei, diese »große Genugtuung« als hundertprozentige Anerkenntnis des Vertrages durch Griechenland zu verstehen, zumal Griechenland nicht durch einen Vorbehalt seine anderslautende Interpretation des Vertrages zu verstehen gegeben habe. Andererseits ist eine Kenntnisnahme nun einmal nicht gleichbedeutend mit einer Zustimmung. Und da weder der Zwei-plus-Vier-Vertrag selbst noch die Charta von Paris einen ausdrücklichen Hinweis auf einen Reparationsverzicht enthalten, stellt der WD fest, daß durchaus Zweifel an der von der Bundesregierung vorgenommenen weitgehenden Interpretation der »Kenntnisnahme« begründet seien.

Damit ist das wichtigste Argument der Bundesregierung praktisch obsolet geworden: Griechenland hat niemals eine bindende Erklärung über seinen Reparationsverzicht abgegeben. Hingegen hätte Athen nach 1990 gute Argumente gehabt, seine Ansprüche geltend zu machen, weil es nicht mehr an das Moratorium des Londoner Schuldenabkommens – nämlich bis zum Abschluß eines Friedensvertrages – gebunden war. Es hat diese Argumente aber bis heute nicht in ein förmliches völkerrechtliches Verfahren eingebracht. Der WD untersuchte daher, ob Griechenland durch den Verzicht auf solche Schritte womöglich seine Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung verwirkt habe. Dafür spreche, daß Griechenland niemals im Rahmen diplomatischer Kommunikation den deutschen Rechtsauffassungen entgegengetreten sei, auch nicht, als deutsche Regierungsvertreter vor griechischen Gerichten behaupteten, alle offenen Fragen seien schon längst geklärt. Damit hat Griechenland seine eigene Rechtsposition geschwächt und der Bundesregierung praktisch das Argument in die Hand gespielt, es stelle eine Bedrohung des »Rechtsfriedens« dar, wollte Griechenland jetzt noch förmliche Ansprüche formulieren. Gegen diese Ansicht allerdings spricht, daß griechische Politiker durchaus immer wieder auf ihre Ansprüche hingewiesen haben, wenn auch eher gegenüber den Medien und nicht in einem Verfahren auf der Grundlage des Völkerrechts. Unterm Strich kommt der WD hier zu keiner endgültigen Beurteilung, weil das Völkerrecht durch weite Beurteilungsspielräume und unscharfe Rechtsbegriffe geprägt sei.

Reparationen sind Kompensationen für einen vorangegangenen Völkerrechtsbruch. Individuelle Schäden von Einzelpersonen wurden in der Vergangenheit nicht von diesen selbst, sondern durch den Staat, in dem sie lebten, geltend gemacht. Mittlerweile kennt das Völkerrecht auch individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden gegen den verursachenden Staat, dabei handelt es sich dann nicht mehr um Reparationen im klassischen Sinne. Strittig ist aber, inwiefern diese neue Tendenz quasi rückwirkend auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges angewandt werden kann. Nachdem das Oberste Gericht Italiens die Bundesrepublik mehrfach zur Entschädigung von Einzelpersonen verurteilt hatte, ging Deutschland, wie erwähnt, vor den Internationalen Gerichtshof, der im Februar 2012 die deutsche Position bestätigte, die italienischen Urteile stellten eine Verletzung der »Staatenimmunität« dar.

Die Frage, ob Griechenland grundsätzlich einen völkerrechtlichen Reparationsanspruch hat, hängt dem WD zufolge davon ab, welchen Völkerrechtsansatz man wählt. Eine Mehrheit des neueren Schrifttums gehe davon aus, daß ein Anspruch auf Reparation bereits mit dem schadensstiftenden Ereignis selbst entsteht. Das heißt: Wenn eine Partei das Völkerrecht verletzt, macht sie sich schon damit grundsätzlich reparationspflichtig. Auch diese Rechtsauffassung entstand aber erst nach 1945. Bis dahin galt der Grundsatz, daß etwaige Reparationspflichten (friedens)vertraglich zu regeln sind. Ein Beispiel hierfür ist der Versailler Vertrag, der eine Pflicht Deutschlands zur Zahlung von Reparationen festschrieb, die dann später konkret beziffert wurden. Die Reparationspflicht war also nicht »automatisch« entstanden, sondern beruhte auf vertraglicher Vereinbarung.

Folgt man diesem Ansatz, dann müßte Griechenland Deutschland zur Aufnahme von Verhandlungen auffordern, um eine solche Reparationspflicht formell festzustellen und die Höhe der Ansprüche zu klären. Setzt man das »neue« Völkerrecht an, müßte man über die Frage, ob Deutschland reparationspflichtig ist, nicht erst diskutieren, sondern könnte gleich über die konkrete Summe reden. In beiden Fällen wäre aber unverzichtbar, daß Griechenland rechtsförmige Schritte einleitet und mit der Bundesregierung verhandelt.

Nur: Solange Griechenland am Tropf der EU hängt, ist es faktisch kein gleichberechtigter Verhandlungspartner. Und es liegt auf der Hand, daß Deutschland eine etwaige griechische »Vorladung« zu Reparationsverhandlungen kalt lächelnd ignorieren würde. Dagegen wäre Athen praktisch machtlos: Der Rechtsweg ist weitgehend versperrt. Urteile ausländischer Gerichte sind wie erwähnt vom IGH kassiert worden, Klagen vor deutschen Gerichten sind nach deutscher Rechtsprechung unzulässig, und der IGH selbst hat ebenfalls keine Zuständigkeit – außer, Deutschland unterwürfe sich ihm freiwillig. Damit ist nicht zu rechnen.

In einer weiteren Ausarbeitung, die ebenfalls unter Verschluß ist, hat sich der WD mit der Zwangsanleihe von 1942 befaßt. Die Nazis hatten Griechenland damals Geld abgepreßt, um ihre Besatzungskosten zu finanzieren. Bei Kriegsende betrugen die deutschen Schulden 476 Millionen Reichsmark. Nach Auffassung der Bundesregierung fällt diese Anleihe in den Katalog der – aus ihrer Sicht »erledigten« – Reparationen. Das kann man aber auch ganz anders sehen: Ein Darlehen ist zurückzuzahlen, wie jedes andere Darlehen auch. Begründet Griechenland seinen Anspruch darlehensvertragsrechtlich, handelte es sich um eine zivile Rechtsstreitigkeit, die – fernab von etwaigen Reparationsgesprächen – vor einem normalen deutschen Gericht zu führen wäre. Der Wissenschaftliche Dienst legt sich da nicht fest und hält beides für möglich. In einem Gerichtsverfahren könne zudem festgestellt werden, ob die griechischen Ansprüche nicht womöglich schon verjährt seien. Bislang gibt es aber weder die Bereitschaft der Bundesregierung, eine Rückzahlungspflicht anzuerkennen, noch der griechischen Regierung, den Rechtsweg vor einem deutschen Gericht einzuschlagen.

Sehr umstritten ist zudem der Umfang einer Rückzahlungspflicht nach heutigem Wert. Der Wissenschaftliche Dienst hat die Summe von 3,5 Milliarden Euro errechnet, der »Nationalrat für die Einforderung deutscher Kriegsschulden an Griechenland« kommt hingegen auf 54 Milliarden Euro (jW, 22.3.2014). Ähnlich variieren die Angaben über die mögliche Gesamtsumme von Reparationen. Im geheim gehaltenen Bericht einer griechischen Parlamentskommission von Anfang 2013 ist Medienberichten zufolge von über 160 Milliarden Euro die Rede. Der Nationalrat geht, unter Einrechnung des Wertes geraubter Kulturgüter, von rund 500 Milliarden Euro aus.

Präzedenzloses Verbrechen

Es gibt im Völkerrecht kein »Verfallsdatum« für Reparationsansprüche. Sofern die Bundesregierung – was sie auf Kleine Anfragen der Linksfraktion immer wieder tut – darauf verweist, es sei »präzedenzlos«, 70 Jahre nach Kriegsende noch Forderungen zu erheben, ist zweierlei zu entgegnen: Zum einen hat es bis 1990 ein Moratorium gegeben, das ausdrücklich nur ein Aufschieben, nicht eine Aufhebung der Reparationsansprüche begründet hatte, zum anderen ist sie nach 1990 immer wieder mit Forderungen hochrangiger griechischer Politiker konfrontiert worden, ohne darauf einzugehen. Abgesehen davon ist »präzedenzlos« vor allem das Ausmaß der Verbrechen, die von deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg begangen worden sind.

Griechenland hat zu keinem Zeitpunkt auf die Reparationen verzichtet. Ein Versäumnis Athens liegt allerdings darin, daß es seine Ansprüche vorwiegend gegenüber den Medien thematisiert, aber niemals rechtsförmige Schritte eingeleitet hat.

Aus diesem Versäumnis die Schlußfolgerung abzuleiten, Griechenland habe seine Ansprüche verwirkt, ist aber nicht überzeugend. Die Rechtslage ist selbst nach Meinung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu komplex, um hier zu einem eindeutigen Befund zu kommen, die Rechtsauffassung der Bundesregierung wird als nicht zwingend bezeichnet. Die Angelegenheit bleibt damit vorrangig eine politische. Weil die Forderungen griechischer Opfer zudem von hohem moralischen Stellenwert sind, ist es für die Linkspartei überhaupt keine Frage, daß Deutschland endlich Entschädigungen zahlen muß. Deren Höhe ist Verhandlungssache – es liegt an der Bundesregierung, Griechenland die Bereitschaft zu fairen Verhandlungen anzubieten, und an Griechenland, solche Verhandlungen eindeutig anzumahnen. Die Zwangsanleihe muß unabhängig davon zurückgezahlt werden. Was die Nazis geraubt haben, darf die Bundesrepublik nicht einfach behalten.