Kommentar: Partielle Betroffenheit

In den frühen Morgenstunden des Sonntags hat die Polizei ein Camp von Flüchtlingen in der Münchener Innenstadt gewaltsam geräumt. Etwa 50 Schutzsuchende hatten vor einer Woche den Rindermarkt besetzt und einen Hungerstreik begonnen. Damit hofften sie, ihre Anerkennung als Asylsuchende durchzusetzen. Ab Dienstag verweigerten die Hungerstreikenden die Wasserzufuhr, was innerhalb weniger Tage zu ihrem Tod führen muß. Am Freitag kündigten sie zudem an, ärztliche Hilfe zu verweigern.

Die Hungerstreikenden hätten sich in unmittelbarer Lebensgefahr befunden, rechtfertigten Behördenvertreter die Räumung des Camps und die zwangsweise ärztliche Versorgung der Flüchtlinge. »Es erfüllt uns mit großer Sorge und Trauer«, erklärte der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, der gemeinsam mit dem CSU-Politiker Alois Glück, die Flüchtlinge noch in der Nacht zum Sonntag die Flüchtlinge zur Aufgabe ihres Protestes zu bewegen versucht hatten. »Wir gehen hier bedrückt weg«, erklärte Glück nach dem gescheiterten Vermittlungsgespräch. Die sichtbare Erschütterung von Glück und Vogel angesichts der Situation der Flüchtlinge ist glaubwürdig. Doch sie ist partiell, denn sie ignoriert die Lage, die diese Menschen erst dazu brachte, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

In Lebensgefahr befanden sich viele Flüchtlinge bereits in ihren Heimatländern. Denn sie flohen vor Verfolgung durch Regimes, die von den westlichen Staaten mit Unterdrückungstechnik ausgerüstet wurden. Oder sie flüchteten vor den NATO-Kriegen in Afghanistan und Libyen. Wieder andere flohen vor Hunger und Not aus Ländern, in denen westliche Großkonzerne Hand in Hand mit einheimischen Potentaten Menschenrechte Profiten opfern. In Lebensgefahr befinden sich viele Flüchtlinge, die nach Ablehnung ihrer Asylanträge aus Deutschland in ihre Heimatländer deportiert werden, wo sie erneut politischer oder religiöser Verfolgung ausgesetzt sind oder wo bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. In Lebensgefahr befinden sich die vielen Flüchtlinge, die jedes Jahr versuchen, die Grenzen der Festung Europa zu überwinden und immer riskantere Passagen über das Meer suchen, um den Patrollienbooten und -hubschraubern der EU-Grenzschutzagentur Frontex auszuweichen.

Doch solche Flüchtlingsdramen spielen sich fern der deutschen Öffentlichkeit ab. Was in München für Erschütterung der »Vermittler« aus der Politik und der Empörung der Staatsgewalt sorgt, ist das drohende Sterben von Flüchtlingen vor aller Augen. Es soll den »Habenichtsen« nicht gestattet werden, in der guten Stube der bayerischen Landeshauptstadt zu krepieren. Doch die Flüchtlinge, die in München, Berlin und Hamburg mit Camps und Hungerstreiks für ihr Bleiberecht eintreten, haben die tödlichen Folgen der deutschen und EU-Flüchtlingspolitik vor Augen. Daraus speist sich die Radikalität und Entschlossenheit ihres Kampfes. Sie verdienen in jeder Hinsicht unsere Solidarität.

erschien in: junge Welt 1.7.2013