Artikel: Seit der Gründung rechts

Am 31. März 1941 wurde die 41jährige Jüdin Anna Neubeck im von den Nazis besetzten Belgien zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihr Vergehen: Sie soll Geld und Essen von der »Roten Hilfe«, einer KPD-nahen Hilfsorganisation für politische Gefangene und ihre Familien, angenommen haben und sich mit anderen Flüchtlingen getroffen haben. Anna Neubeck wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der Staatsanwalt, der die Anklageschrift gegen sie verfaßt hatte, hieß Hubert Schrübbers. Eben dieser »schreckliche Jurist« stand ab 1955 18 Jahre lang als Präsident an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).

Dieser Inlandsgeheimdienst wurde 1950 mit Hilfe der USA vor allem als Instrument gegen eine angebliche kommunistische Gefahr gegründet. 1949 hatten die Militärgouverneure der drei Westzonen der Bundesregierung »gestattet, eine Stelle zur Sammlung, Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnisse haben.«

Insbesondere unter Schrübbers rückten Seilschaften von ehemaligen Offizieren der SS, des Sicherheitsdienstes SD und der Gestapo im Geheimdienst vor, wo sie bald führende Positionen einnahmen. Am 31. August 1963 meldete die sozialdemokratische Kieler Volkszeitung: »16 von 46 Verfassungsschutzbeamten sind ehemalige SS-Führer«. Doch der damalige Bundes­innenminister Hermann Höcherl (CSU) verwahrte sich dagegen, »eine formelle Zugehörigkeit zur SS heute bereits als Verbrechen anzusehen«.

Aus dieser Perspektive wird verständlich, daß es sich bei den ersten V-Leuten des Verfassungsschutzes (VS) in der Alt- und Neonaziszene nicht um eingeschleuste Unterwanderer handelte. Vielmehr griffen die Altnazis im VS ihren politisch engagierten »alten Kameraden« unter die Arme. Eine gemeinsame antikommunistische und nationalistische Überzeugung verband diese Altnazis mit denjenigen Gesinnungsgenossen, die Mitte der 60er Jahre die NPD gründeten. Bezeichnend ist das Beispiel des langjährigen V-Manns des NRW-Verfassungsschutzes Wolfgang Frenz der 1959/60 als Mitglied der faschistischen Deutschen Reichspartei angeworben wurde. Bei Gründung der NPD blieb Frenz mit Wissen seines Parteivorstandes V-Mann, um an staatliche Gelder zu kommen. »Wenn Sie so wollen, hat der Verfassungsschutz die Grundfinanzierung der NPD in NRW geleistet«, erklärte Frenz vor einigen Jahren dem Stern.

In der Welt vom 12. September 1963 hieß es bezüglich der Naziseilschaften beim VS: »Der Sprecher des Innenministeriums hatte seinerzeit erklärt, daß die ehemaligen SS- und SD-Angehörigen schon deshalb nicht entlassen werden könnten, weil man auf ihre Erfahrungen nicht verzichten wolle«. Gemeint sind ihre unter der Nazidiktatur gewonnenen Erfahrungen im Kampf gegen den Kommunismus.

Neben den faschistischen Staaten Spanien und Portugal war die Bundesrepublik das einzige Land in Europa, in dem eine kommunistische Partei verboten wurde. Das KPD-Verbotsverfahren 1955/56 stützt sich in erheblichem Maße auf VS-Quellen. Der Geheimdienst verfolgte auch Organisationen, in denen ehemalige KPD-Mitglieder aktiv waren, wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und die bürgerlich-pazifistische Deutsche Friedensunion. Selbst der spätere Bundespräsident (1969-74) Gustav Heinemann, ein Sozialdemokrat, wurde jahrelang bespitzelt. Sein Vergehen: Er verteidigte als Anwalt KPD-Mitglieder, die nach dem Parteiverbot in Haft kamen. Zudem wandte er sich öffentlich gegen die Wiederbewaffnung und Atomwaffen.

Eine Nazivergangenheit war nicht weiter schädlich für eine Karriere in der BRD. Linken hingegen drohten Berufsverbote. Am 28. Januar 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit SPD-Kanzler Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlaß. 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden seitdem per Regelanfrage an den Verfassungsschutz auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft. Das führte zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Betroffen waren fast ausschließlich politisch mißliebige linke Organisationen und Personen, die so an den Rand der Legalität gerückt wurden. Die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit wurde bedroht. Duckmäusertum wurde statt Zivilcourage gefördert.

Erst Jahre später erst räumte Willy Brandt ein, sich bei Einführung des »Radikalenerlasses« schwerwiegend geirrt zu haben. Die Regelanfrage und die Erlasse auf Länderebene wurden ab Mitte der 80er Jahre weitestgehend abgeschafft. Seit 2006 gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugungen verbietet. Trotz der Verurteilung der Berufsverbotspraxis durch den Europäischen Gerichtshof im Jahr 1995 wurde nie öffentlich eingestanden, daß der »Radikalenerlaß« Unrecht war. Weder wurden die von dieser Praxis Betroffenen rehabilitiert noch wurde ihnen Schadenersatz für das erlittene Unrecht geleistet. Die damaligen Berufsverbotsopfer haben heute zum Teil massive Renteneinbußen, da sie nicht in ihren erlernten Berufen etwa als Lehrer arbeiten konnten und so in einigen Fällen als Hilfsarbeiter tätig werden mußten.

Als sich 1967 die Außerparlamentarische Opposition (APO) bildete und eine neue Linke entstand, infiltrierte der VS militante Gruppen, radikalisierte sie und trug so selbst zur Schaffung einer »terroristischen Bedrohung« bei. Ein bekanntes Beispiel ist der Agent Peter Urbach, der am 11. April 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Demonstranten bei der Großdemonstration gegen den Springer-Verlag mit Molotowcocktails versorgte und zeigte, wie man Autos umkippt und anzündet. Dadurch erst eskalierte diese Demonstration zu einer der schwersten Straßenschlachten in der Geschichte der BRD.

Anläßlich eines Besuchs von US-Präsident Richard Nixon 1969 in Berlin verteilte Urbach zwölf Sprengsätze in der linken Szene. Diese an verschiedenen Stellen deponierten Bomben zündeten aufgrund eines Fehlers nicht. Urbach beschaffte zudem dem Rechtsanwalt und Mitbegründer der Roten Armee Fraktion (RAF) Horst Mahler, der damals noch ein radikaler Linker war, unaufgefordert eine Pistole und half bei der weiteren Waffenbeschaffung. Schließlich lieferte Urbach auch die Bombe für ein Attentat der linken Tupamaros West-Berlin auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969. Die Bombe zündete nicht.

Ein weiteres Beispiel, wie der VS selber terroristisch tätig wurde, ist das »Celler Loch« aus dem Jahr 1978. Hier ließ der niedersächsische Inlandsgeheimdienst ein Loch in die Mauer der Justizvollzugsanstalt Celle sprengen, um einen Anschlag zur Befreiung des RAF-Gefangenen Sigurd Debus vorzutäuschen. So sollte einem Spitzel, der in die RAF eingeschleust werden sollte, eine Legende verliehen werden.

Die VS-Ämter von Bund und Ländern bespitzelten soziale Bewegungen wie die Antiatombewegung und die linke Opposition und diffamierten diese öffentlich als extremistisch. Mit der PDS kam 1990 ein neues Beobachtungsobjekt dazu. Seit 2013 hat das BfV erklärt, nur noch »offen extremistische Strömungen« innerhalb der Linkspartei zu überwachen und nicht mehr die gesamte Partei. Gemeint sind die Kommunistische Plattform, die Sozialistische Linke, die Antikapitalistische Linke, Cuba Sí, das Marxistische Forum und der Geraer/Sozialistischer Dialog. Damit werden 25 Bundestagsabgeordnete der Linken weiterhin überwacht – immerhin ein Drittel der Fraktion.

Die Belege für den angeblichen Extremismus dieser Strömungen diskreditieren vor allem das BfV. So wird schon ein Bekenntnis zum Sozialismus – wie es als Lippenbekenntnis auch im Programm der SPD enthalten ist – als »extremistisch« ausgelegt. Während im Grundgesetz kein Wort von Kapitalismus steht, sehr wohl aber zur Sozialpflichtigkeit von Eigentum und der Möglichkeit der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, erscheint dem Verfassungsschutz alleine das Ziel, eine »solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus« aufbauen zu wollen, als antidemokratisch.

Schon die Betonung der Verbindung von parlamentarischen mit außerparlamentarischen Aktivitäten, wird als »negative Einstellung« zur Demokratie gewertet. Als Beleg für eine »positive Einstellung zur DDR und SED-Diktatur« gilt die Anerkennung von Erfolgen der DDR-Sozialpolitik. Und die Kampagne »Milchpulver für Cubas Kinder« sorgt für die Festigung einer Diktatur.

Der Diffamierung oppositioneller Meinungen und Aktivitäten dient auch das von der Bundesregierung und ihrem Geheimdienst vertretene Extremismuskonstrukt. In unwissenschaftlicher Weise werden hier faschistische Rechte und antikapitalistische Linke als »extremistisch« gleichgesetzt. Dieser Ansatz ignoriert, daß die Linke die Demokratie ausweiten will – auch in der Wirtschaft und für Nicht-Deutsche, während die Faschisten eine Diktatur anstreben.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat eine »Extremismusklausel« für antifaschistische und antirassistische Projekte eingeführt. Zivilgesellschaftliche Träger dieser Programme müssen nicht nur ihre eigene, sondern auch die Verfassungstreue ihrer Kooperationspartner, Referenten etc. zusichern. Diese von der Linkspartei, SPD und Grünen, den Zentralräten der Juden und Muslime und vielen weiteren Gruppierungen strikt abgelehnte Klausel schwächt in der Praxis den Antifaschismus, sie schürt Mißtrauen und führt zu vorauseilendem Gehorsam. Der Geheimdienst spielt sich so als Zensor der Zivilgesellschaft auf.

Aus: staat & gewalt, Beilage der jW vom 03.07.2013