Die Bundesregierung setzt offenbar darauf, die Diskussion um angeblichen Sozialhilfebetrug durch osteuropäische Roma zum Wahlkampfthema aufzublasen. Belastbare Zahlen kann sie allerdings nicht nennen.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) klagt seit Wochen über einen Zuzug sogenannter Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien. Vorige Woche hat er sogar gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Österreich, Großbritannien und den Niederlanden in einem Brief die EU-Ratspräsidentschaft aufgefordert, Maßnahmen zu treffen, »um den Folgen dieser Art von Einwanderung zu begegnen«. Die Minister führen aus, es sei eine »Beleidigung für den gesunden Menschenverstand«, Neuankömmlingen denselben Zugang zu Sozialleistungen zu gewähren wie Einheimischen. Konkret wird eine neue »Auslegung« der EU-Freizügigkeitsrichtlinie gefordert. Im Juni steht dies auf der Tagesordnung des EU-Innenministertreffens.
Friedrich stützt sich auf ein Papier des Deutschen Städtetages, in dem behauptet wird, in einigen Großstädten siedelten sich Roma vor allem aus Bulgarien und Rumänien einzig zu dem Zweck an, Sozialleistungen zu kassieren. Weder der Städtetag noch Friedrich können dies aber mit Zahlen belegen, wie der Bundesinnenminister Ende vorige Woche in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zugeben mußte.
Soweit amtliche Zahlen vorliegen, deuten sie in eine ganz andere Richtung. Tatsächlich hat der Zuzug aus Bulgarien und Rumänien stark zugenommen. Knapp die Hälfte der hier lebenden 205000 Rumänen und 119000 Bulgaren kam in den letzten drei Jahren. Eine überdurchschnittliche Belastung der Sozialsysteme verursachen sie aber gerade nicht. Mit offiziell 9,6 Prozent ist die Arbeitslosigkeit unter ihnen deutlich niedriger als unter anderen Ausländern (16,4 Prozent). Die meisten Zuwanderer gehen nach Baden-Württemberg und Bayern, also dorthin, wo es mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt. »Bisher ist in absoluten Zahlen kein erheblicher Anstieg der Arbeitslosigkeit von rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen statistisch erfaßt«, räumt die Bundesregierung ein.
Sie verwickelt sich in weitere Widersprüche. Einerseits fordert sie die Freizügigkeitsrichtlinie zu verschärfen. Andererseits führt sie in der Antwort an die Linksfraktion aus, diese Richtlinie erlaube es den Mitgliedsstaaten schon jetzt, »Zuwanderer aus dem Land zu weisen, die in Täuschungsabsicht nur vorgeblich zum Zweck der Arbeitssuche oder der selbständigen Erwerbstätigkeit einreisen, um in den Genuß staatlicher Leistungen zu kommen«. Konkrete Zahlen fehlen aber auch hier, zudem ist diese Interpretation in der Europäischen Union umstritten.
Auch in der EU-Kommission kennt man keine Zahlen und Fakten, die einen Mißbrauch belegen könnten. EU-Sozialkommissar Laszlo Andor sprach in der Süddeutschen Zeitung (SZ) von einer »sehr aufgeblasenen Diskussion«. Dennoch stimmte jetzt auch der nordrhein-westfälische Sozialminister Guntram Schneider (SPD) in den demagogischen Chor ein und malte in der SZ das Bild von »unglaublichen Zuständen« an die Wand, die bei voller Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen im kommenden Jahr drohten.
Falls die Kommission dem Ruf aus Berlin nicht folgt, ist die nächste Eskalationsstufe programmiert: Die Bundesregierung bekundet ihr Verständnis für Befürchtungen, daß Armutszuwanderung »zu einer Gefährdung des sozialen Zusammenhalts und des sozialen Friedens führen könnte«. Das klingt nach dem Beginn der 1990er Jahre, als CDU/CSU, SPD und FDP Verständnis für jene sahen, die etwa in Rostock-Lichtenhagen den »sozialen Frieden« gestört hatten und schutzsuchende Flüchtlinge ermorden wollten.
junge Welt 30.4.2013