Artikel: Orwell war gestern

Am 14. und 15. Februar findet, wie jedes Jahr, in Berlin wieder der Europäische Polizeikongreß statt. Er hat bisweilen den Charakter einer Verkaufsmesse: Während sich Experten vom Fach auf Podien und in Foren zu Details polizeilicher Arbeit und Strategien austauschen, findet in den Gängen des Kongreßzentrums eine große Verkaufsschau statt. Alles, was im Sicherheitsbereich forscht, produziert und verkauft, ist vertreten. Etwa der Technologiekonzern 3M, der Einsatzausrüstung, Infrastruktur und vieles mehr »aus Bereichen wie Objektschutz, Grenzsicherung oder Arbeits- und Umweltschutz für die Erhaltung der Inneren Sicherheit« anzubieten hat. Oder AGT International, eine Firma, die sich gleichermaßen um die Sicherheit von Grenzen wie der Behördencomputer kümmert, ebenso wie Axis Communica­tions, »die treibende Kraft im Bereich Netzwerkvideo«. Die Ausstellerliste unterscheidet sich kaum von derjenigen der Europäischen Sicherheitskonferenz, einer Militärtagung, die im Herbst ebenfalls in Berlin stattfindet. Die Unternehmen haben eben sowohl dem polizeilichen als auch dem militärischen Arm der »Sicherheit« etwas zu verkaufen. Dieser Umstand veranschaulicht, daß das Trennungsgebot zwischen Militär und Polizei als alter Hut betrachtet wird. Veranstalter beider Kongresse ist die Zeitschrift Behörden Spiegel. Diese hat nur ein einziges Anliegen: Die betreffenden Unternehmen zu fördern und öffentliche Behörden zu ermuntern, deren Produkte zu kaufen. Mit 1400 Besuchern rechnet der Behörden Spiegel. Mitarbeiter öffentlicher Verwaltungen haben freien Zutritt – sie sind ja die Zielgruppe.
Privatwirtschaftliche »Lösungen«
Das Motto des diesjährigen Kongresses lautet: »Vernetzte Sicherheit: Terrorismus«. Aufgrund der engen Zusammenarbeit mit Regierungsbehörden – dieses Jahr spricht unter anderem Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger; die Innenminister von Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Brandenburg bestreiten ein Podium – muß davon ausgegangen werden, daß das meiste, was dort verhandelt wird, auch offizielle Billigung erfährt. Das beginnt schon mit dem Einladungsschreiben: Zu recht wird zum Stichwort Terrorismus angeführt, daß die Nazimörder der »Zwickauer Zelle« derzeit die Diskussion beherrschen. Doch dann kommt gleich der »extremismustheoretische« Ausgleichschritt: »Zum anderen zeigen die erneuten Verhaftungen islamistischer Terroristen, daß auch von dieser Seite eine konkrete Gefahr ausgeht und Anschlagspläne vorbereitet werden [der Haftrichter sah das anders – U. J.]. Der Links­terrorismus ist wieder auf der Tagesordnung: Briefbomben an das Bundeskanzleramt und an die Deutsche Bank.« Wer dieser Tage ernsthaft behauptet, »Linksterrorismus« sei in Deutschland »wieder an der Tagesordnung«, sollte polizeidienstunfähig geschrieben werden.

Die verzerrte Wahrnehmung universeller »Gefährdung« bestimmt dann auch die Schlußfolgerungen, die Veranstalter Uwe Proll (Behörden Spiegel vom 19.1.2012) zieht: »Vernetzung« heiße die Zauberformel, die Sicherheitspolitiker seit Jahren anpreisen. Im aktuellen Kontext bedeutet das nicht nur anlaßbezogene Zusammenarbeit gegen konkret ausgemachte Bedrohungen: Mit Vernetzung ist tendenziell die Auflösung jeglichen Trennungsgebotes gemeint und die Teilung des jeweiligen Wissens, sprich der Datenbänke. Voller Bedauern stellt Proll fest, daß die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ja immer noch abgelehnt werde (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wird deswegen reichlich Gegenwind verspüren), und auch die angekündigte Eigenentwicklung eines Bundestrojaners werde noch rund zwei Jahre auf sich warten lassen. »Lösungen auf Basis industrieller bzw. privatwirtschaftlicher Produktion müssen her«, so der Chefredakteur und Herausgeber des Behörden Spiegels weiter. Softwarelösungen habe die Industrie ja schon längst entwickelt, wo der Staat versagt habe. Damit könnten die bislang angehäuften Datenberge nicht nur immer größer, sondern vor allem endlich einmal »adäquat« ausgewertet werden. Dazu brauche es zum einen sogenannte »data mining«-Verfahren, also die automatisierte Suche nach Gemeinsamkeiten innerhalb von Dateien. Was dem Spürsinn menschlicher Ermittler entgeht, soll die Maschine aufdecken – im Prinzip stellt dieses Vorgehen eine Variation der Rasterfahndung dar. Da könnten sich Zusammenhänge zwischen dem Menschen, der ein veganes (Halal-)Essen im Flugzeug gebucht hat, und den Aktionen einer Tierrechts-(oder Islamisten-)gruppe auftun. Wahrscheinlicher ist freilich, daß derart viele falsche Treffer gelandet werden, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Industrie auch hierfür wieder teure Software anbietet.

Eines ist für die »Praktiker« der Sicherheit aber klar: Alle sollen das Gleiche wissen. Proll im Behörden Spiegel: »Eine Kooperation zwischen Staaten und ihren Sicherheitsbehörden, zwischen Behörden und Industrie sowie den Sicherheitsorganen selbst, also Polizei, Zoll, Verfassungsschutz, Auswärtigem Dienst, Melde- und Ausländerbehörden, ist die obligatorische Voraussetzung, um zu einer vernetzten Sicherheit zu kommen.« Orwell war gestern …
Ablenkungsmanöver GAR
Bei dieser Kooperation fallen nach und nach bisherige Schranken weg. Diese Tendenz ist auch in Deutschland festzustellen, obwohl es hier nach Verfassungsrecht eine Trennung von Polizei und Militär sowie von Polizei und Geheimdiensten gibt. Das hat die Regierung nicht daran gehindert, 2004 ein Gemeinsames Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) zu etablieren. In Berlin-Treptow sitzen seither Tag für Tag Vertreter sämtlicher deutscher Sicherheitsbehörden zusammen: Bundespolizei, BKA, Generalbundesanwalt, die drei Geheimdienste, das Zollkriminalamt, die Landesverfassungsschutz- und -kriminalämter. In täglichen Lagebesprechungen tauschen sie ihre Erkenntnisse aus – ein Schelm ist, wer glaubt, daß sie dabei ständig ans Grundgesetz denken. Das institutionalisierte Zusammenhocken jenseits konkreter Gefährdungen untergräbt das grundgesetzliche Trennungsgebot.

Das zweite nunmehr eingerichtete Anti-Terrorzentrum wurde nach nur wenigen Wochen Diskussion etabliert: Das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) ist eine unmittelbare Reaktion auf die Aufdeckung der Mordserie des neonazistischen NSU. Es ist zugleich ein Ablenkungsmanöver: Anstatt über die dubiose Rolle von Geheimdiensten und Kriminalämtern im Zusammenhang mit der Neonazimordserie zu sprechen und diesen Skandal aufzudecken, wird gleichsam die Flucht nach vorn angetreten und das nächste nach Gesichtspunkten des Grundgesetzes fragwürdige Instrument geschaffen. Im neuen Antiterrorzentrum sitzen nun ebenfalls alle Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zusammen, d.h. jene Beamten, die sich mit rechtsextremer Gewalt befassen. Sie tauschen sich dort über allgemeine Erkenntnisse zu Entwicklungen in der rechten Szene aus, haben feste Arbeitsgruppen u.a. zu »Organisationsverboten« und »Gefährdungsbewertung« eingerichtet. Einziger Unterschied zum »alten« GTAZ: Es gibt zwei Stützpunkte, einen für die »Geheimdienstler« in Köln und einen für die »Kriminalen« in Meckenheim. Zweimal die Woche tritt das Plenum zusammen: Polizeibehörden von Bund und Ländern mit Verfassungsschutzämtern von Bund und Ländern, plus MAD, also Bundeswehr, plus Europol. Auch der BND kann eingebunden werden.

Begründet wird dieser weitere Anschlag auf das Trennungsgebot mit der Notwendigkeit, erkannte »Lücken« oder »Koordinierungsmängel« bei der Bekämpfung des Neofaschismus zu schließen. Gerade Linke und Antifaschisten könnten hier geneigt sein, ein Auge zuzudrücken – es soll ja gegen Nazis gehen. Allerdings: Es ist eine Frechheit der Behörden, so zu tun, als hätten sie bislang keine Möglichkeiten für einen Austausch gehabt. Man braucht kein Antiterrorzentrum, damit der Verfassungsschutz der Polizei einen Tip geben kann, wenn sich irgendwo ein mit Haftbefehl gesuchter Neonazi aufhält. Der Verfassungsschutz wollte das nicht tun, bzw. die Polizei wollte es nicht hören, das ist das Problem!
Desinteresse an Rechtsterroristen
1992 wurde eine »Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte« (IGR) gegründet. Da hätten sich die Sicherheitsbehörden austauschen können. Aber das IGR wurde kaum genutzt. Seit 2007 ist diese Gruppe nicht mehr zusammengetreten. Die Linksfraktion hatte sich im Bundestag nach der Arbeit dieses Gremiums erkundigt: Nachdem es in den 1990er Jahren noch mehrmals jährlich zusammenkam, ist es spätestens im Jahr 2007 schlicht und einfach eingeschlafen. Auch wenn die Bundesregierung nähere Angaben dazu, was im IGR eigentlich getan wurde, nahezu komplett verweigert (worauf an anderer Stelle zurückzukommen ist), so hat sie doch eines offenbart: Die Behörden haben sich dort nie, kein einziges Mal, über den Thüringer Heimatschutz ausgetauscht, obwohl dessen Mitglieder (und spätere »NSU«-Mörder) Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe immerhin eine Bombenwerkstatt unterhalten hatten und untergetaucht waren.

Die Bundesregierung will nun genau jene Sicherheitsbehörden stärken, die in den vergangenen Jahren ein erschreckendes Desinteresse an Rechtsterroristen gezeigt haben. Genau jene Behörden, die im neuen GAR rechts zusammensitzen, sind verantwortlich für das offizielle »Übersehen« von zahlreichen Nazimorden! Wer keinen Neonaziterror sehen will, sieht ihn auch dann nicht, wenn er mit anderen zusammenhockt, die ebenfalls keinen Neonaziterror sehen wollen.

Auf ähnliche rechtsstaatliche Bedenken wie das GAR stößt die neue »Datei zur Bekämpfung des gewaltbezogenen Rechtsextremismus«. Der Gesetzentwurf ist von der Bundesregierung vor wenigen Wochen vorgestellt worden und wird voraussichtlich bald in den Bundestag eingebracht. Das Dateigesetz ist eng am »Vorbild« der bisherigen Antiterrordatei orientiert.

Im Großen und Ganzen wurden nur die Stichwörter ausgetauscht: Statt »internationaler Terrorismus« steht jetzt »gewaltbezogener Rechtsextremismus« im Dateigesetz.

Nun hat das Bundeskriminalamt schon reichlich politische Dateien. Die Linksfraktion erkundigt sich einmal jährlich nach dem Bestand, um die Sammelwut des BKA wenigstens ansatzweise zu dokumentieren. So sind in der Datei »Innere Sicherheit« über 45196 Datensätze zu Personen »im Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (rechts)« gespeichert. 18902 Personen sind außerdem im Polizeilichen Informationssystem mit dem Vermerk »Straftäter rechtsmotiviert« versehen, die Datei »Gewalttäter rechts« verzeichnet 963, die Datei »Politisch motivierte Kriminalität – rechts« 610 Einträge. Zum Teil handelt es sich um Doppelnennungen.

Interessant ist, daß die Datei »Rechtsextreme Kameradschaften«, die Anfang des Jahrtausends angelegt worden war, 2010 wieder gelöscht worden ist. Es seien kaum noch Datensätze darin enthalten gewesen, teilte die Bundesregierung auf Nachfrage der Linksfraktion mit. Das ist merkwürdig, weil die Anzahl der »Personenzusammenschlüsse« in diesem Bereich im gleichen Jahr sogar gewachsen war.

In den Diskussionen um die neue Datei war anfangs die Rede davon, daß auch Menschen mit »nur« faschistischer Gesinnung aufgenommen werden sollten, um eben nicht nur solche, die bereits wegen einer Gewalttat auffällig geworden waren, zu erfassen, sondern auch jene, die es noch werden könnten. Dem sind natürlich enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt, weil eine »Gesinnung« als solche noch kein Fall für polizeiliche Maßnahmen ist. Der Gesetzentwurf versucht dennoch einen gleichsam prognostischen Ansatz: Gespeichert werden neben Personen, die wegen »einer rechtsextremistischen Gewalttat Beschuldigte oder rechtskräftig Verurteilte sind«, auch Neonazis, bei denen ungenehmigte Schußwaffen gefunden werden, die zur Gewalt aufrufen, »die Anwendung von rechtsextremistisch begründeter Gewalt zur Durchsetzung politischer Belange unterstützen, vorbereiten oder durch ihre Tätigkeiten vorsätzlich hervorrufen«.
Kampf gegen »Linksextremismus«
Im Prinzip ist die Kritik hieran die gleiche wie bei der Antiterrordatei (Islamisten): Die Begriffe widersprechen teilweise dem Bestimmtheitsgebot. Denn es bleibt unklar, was die Behörden als »vorsätzliches Hervorrufen« von Gewalt verstehen. Dadurch weiß niemand, welches Verhalten nun zur Speicherung führt bzw. welches gerade noch zulässig ist, und genau dies ermöglicht behördliche Willkür.

Es fällt natürlich schwer, mit grundsätzlichen Erwägungen Kritik zu formulieren, wenn es doch – scheinbar – darum geht, den Kampf gegen rechts endlich zu verschärfen. Aber erstens dürfte die Wirkung des GAR sowie der Datei gegen Nazis gering sein: Entscheidend ist der politische Wille! Die bisherigen Möglichkeiten der Behörden, sich auszutauschen, wurden nicht genutzt, wieso sollte das im GAR nun anders sein?

Zweitens: Demokratieabbau kann und wird sich nicht auf Nazis beschränken. Es wäre nicht das erste Mal, daß Einschränkungen erlassen werden, die mit dem Kampf gegen rechts begründet werden, und am Ende sind Linke und Antifaschisten die Leidtragenden. Man nehme als Beispiel das sächsische Versammlungsgesetz: Darin wurden unter anderem »historisch herausragende Orte« von Demonstrationen ausgeschlossen, angeblich zum Schutz vor Nazidemos. Tatsächlich bieten die Gummiparagraphen des Gesetzes aber jede Menge Spielraum, um jegliche Versammlungen einzuschränken – und die gestoppte Neonazidemo voriges Jahr begann ausgerechnet am Neustädter Bahnhof, dem Ort der Deportation von Jüdinnen und Juden während der Nazizeit.

Der Austausch weniger Stichwörter hat aus einer Datei gegen Islamisten eine Datei gegen Nazis gemacht. Es bräuchte nicht mehr Aufwand, um eine Datei gegen Linke aufzubauen. Das ist keine Paranoia: Auf die Frage der FAZ vom 23. Januar, ob man nach Dateien zu Islamisten und Nazis nicht auch eine Datei über »gewaltbereite Linksextremisten« benötige, antwortete Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU): »Sie haben Recht mit Ihrem Hinweis. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden auch den Kampf gegen den Linksextremismus verstärken.«
Fragebogen für »Radikale«
Das Ansinnen, »extremistische« Gewalttaten frühzeitig, durch proaktives Tätigwerden der Sicherheitsbehörden, zu erkennen und zu verhindern, ist auf europäischer Ebene weitgehend Konsens. Das Stockholmer Programm der Europäischen Union mit seinen Richtlinien für die Innen- und Sicherheitspolitik von 2010 bis 2014 faßt mehrere dahingehende Unternehmungen zusammen. So empfiehlt der EU-Rat den Mitgliedstaaten die breit angelegte Erfassung von Daten oppositioneller politischer Aktivistinnen und Aktivisten, die als »radikal« eingestuft werden. Vorgeschlagen wird der Einsatz eines Instruments »zur Erfassung von Daten und Informationen über die Radikalisierungsprozesse in der EU«. Dazu gehört ein Fragebogen mit 70 Fragen, die sich mit politischen, aber auch höchst privaten Daten als »radikal« eingeschätzter Personen sowie deren Umfeld beschäftigen. In einer Auflistung »gewaltunterstützender« Ideologien werden genannt: »rechts-/linksextrem, islamistisch, nationalistisch, Antiglobalisierung etc.«

Vorgesehen ist ein umfangreicher Austausch dieser Informationen zwischen den Sicherheitsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten – und zwar aller: ausdrücklich ist die Rede von »Polizeikräften, Sicherheitsdiensten und Geheimdiensten«, überdies von nicht näher genannten »Institutionen, die an der Bekämpfung von Radikalisierung, Anwerbung und Terrorismus beteiligt sind«. Mithin wäre nicht nur das Trennungsgebot aufgehoben, sondern es wären auch polizeiliche Daten auf dem privaten Markt verfügbar. Der EU-Rat faßt zusammen: »Zweck dieses Arbeitsfeldes ist es, zu verhindern, daß Menschen sich dem Terrorismus zuwenden und bei den Faktoren und Ursachen anzusetzen, die innerhalb und außerhalb Europas zu Radikalisierung und Anwerbung von Menschen für den Terrorismus führen können.«

Die Mitgliedstaaten, heißt es weiter, sollten »Informationen über die Radikalisierungsprozesse prüfen, die auch mit anderen Regionen der Welt in Zusammenhang stehen, in denen es zu einer Radikalisierung kommen kann«. Ähnliches gilt für den Informationsaustausch über Personen, »die möglicherweise an einer Radikalisierung beteiligt gewesen sind«. Das soll dann Maßnahmen zur »Unterbrechung laufender Radikalisierungsprozesse« ermöglichen sowie die Auflistung von Personen, »die an der Radikalisierung/Anwerbung oder Übermittlung von radikalisierenden Botschaften beteiligt sind«.

Wie ersichtlich ist, werden Begriffe wie »Radikalisierung« und »Terrorismus« wild durcheinandergeworfen und bedeuten in der Logik der EU-Bürokraten offenbar das gleiche. Obwohl der Begriff »radikal« so zentral für dieses Konzept ist, gibt es keine auch nur annähernde Definition. Der Fragebogen sieht allerdings selbst Informationen zu explizit gewaltfreien Bewegungen vor. Die Bundesregierung hat auf Anfrage der Linksfraktion angegeben, sie beabsichtige nicht, das vorgesehene EU-Instrument einzusetzen. Eine Begründung hierfür gab sie nicht, möglicherweise ist ihr die »Vision« der EU einfach zu ambitioniert bzw. unrealistisch.
Totale Überwachung
Ein ganz ähnlich gelagertes Projekt mit dem Titel INDECT lehnt die Bundesregierung ebenfalls ab. Dabei geht es um die EU-weite Bündelung von Videokameras, die durch automatische Auswertung Hinweise auf Straftaten, aber auch »relevante Bedrohungen« geben und dadurch eine präventive Polizeiarbeit ermöglichen sollen. Das BKA hat die angefragte Teilnahme an dem Projekt »aufgrund des umfassenden Überwachungsgedankens« abgelehnt, wie es in einer Information der Bundesregierung an den Innenausschuß heißt.

Am liebsten hätte die EU einen gemeinsamen Europäischen Datenverbund. Auf SIS, das Schengener Informationssystem, können schon jetzt neben den Polizeien auch jene Geheimdienste zugreifen, die nach ihrer nationalen Rechtslage auch polizeiliche Aufgaben wahrnehmen. Das im Aufbau befindliche Visa-Informationssystem gibt auch Geheimdiensten Zugriffsmöglichkeiten. Motor der polizeilich-geheimdienstlichen, teilprivatisierten Überwachungspraxis in der Europäischen Union ist die EU-Bürokratie selbst. Derzeit betreibt sie eine Machbarkeitsstudie für eine Datei »reisender Gewalttäter«, gemeint sind etwa Teilnehmer an Demonstrationen gegen internationale Gipfeltreffen.

Die vorläufige Ablehnung dieser Vorstöße der Brüsseler Bürokratie durch die Bundesregierung führt nicht automatisch zur Schlußfolgerung, daß diese das kleinere Übel darstellt. Auf Nachfrage stellt sie schon heute gerne ausländischen Sicherheitsbehörden Daten über angebliche »international agierende gewaltbereite Störer« zur Verfügung. Die Schaffung gemeinsamer Zentren und gemeinsam genutzter Dateien atmen genau den gleichen Geist der allseitig »vernetzten« Überwachung. Die EU-Beschlüsse gehen aber weit über das verfassungsrechtlich Zulässige in Deutschland hinaus. Schon deswegen könnte die Bundesregierung sich an solchen Projekten nicht beteiligen. Sie widersetzt sich ihnen allerdings auch nicht: Das Stockholmer Programm für eine gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik ist von der Bundesregierung nicht nur mitgetragen worden, sondern erhielt seine schärfsten Formulierungen gerade vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Gewissermaßen macht es sich die deutsche Regierung bequem: Sie ermuntert die anderen EU-Staaten, nach neuen Überwachungsoptionen zu forschen, hält sich aber zunächst im Hintergrund. Wenn dabei aus ihrer Sicht etwas »Vernünftiges« herauskommt, kann man immer noch innenpolitisch Druck für verfassungswidrige Verschärfungen machen. Die auf einen EU-Beschluß zurückführende Vorratsdatenspeicherung zeigt, wie das geht.
Digitaler Datenschatz
Der Trend geht auch bei deutschen Sicherheitsbehörden unverkennbar dahin, sich statt seriöser Kriminalarbeit technischer Spionagemethoden zu bedienen und immer mehr auf großflächige Überwachung zu setzen. Die Technik macht es möglich: Nachdem voriges Jahr herauskam, daß die sächsische Polizei die Verbindungsdaten mehrerer zehntausend Menschen hat erfassen lassen, um herauszufinden, welche Antifaschisten an den Blockaden des Neonaziaufmarsches in Dresden beteiligt waren, gab es noch einen großen Aufschrei. Inzwischen weiß man, daß dieses Überwachungsmittel auch in anderen Bundesländern bereits mehrfach im Einsatz war. In Berlin hoffte man durch die Funkzellenabfrage, Autobrandstiftern auf die Schliche zu kommen, auch in Nordrhein-Westfalen wird das Mittel angewandt, das dortige Innenministerium verweigert aber nähere Angaben.

Die Technik macht es möglich, und die Dateien, die so nutzbar gemacht werden, sind im Aufbau. Der hier wirkenden Logik widerspricht es, Begrenzungen wie etwa die Zweckbindung einzubauen. Wenn nun schon alle Bundesbürger biometrische Fotos in ihren Personalausweisen haben müssen, wieso sollen die dann nicht durch datamining-Verfahren usw. gescannt werden und von jeder Behörde abfragbar sein? Wer behauptet, die zentral vergebene Steueridentifikationsnummer dürfe nur und ausschließlich vom Finanzamt verwendet werden? Die EU formuliert folgendermaßen: »Jedes Objekt, das ein Mensch benutzt, jede Transaktion, die er macht und beinahe jeder Geschäftsgang oder jede Reise, die er unternimmt, erzeugt einen detaillierten digitalen Datensatz. Dies generiert einen wahren Schatz an Information für öffentliche Sicherheitsorganisationen und eröffnet gigantische Möglichkeiten zur Steigerung der Effektivität und Produktivität der öffentlichen Sicherheit.« Die Besucher des Europäischen Polizeikongresses werden sich von den neuesten »Lösungen« der Industrie für diese Überwachungsgelüste überzeugen können.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag