Artikel: Angeklagt wegen Rettung aus Seenot

Nach fast dreijähriger Prozeßdauer wird für den morgigen Mittwoch die Urteilsverkündung im Cap-Anamur-Verfahren erwartet. In diesem skandalösen Prozeß geht Berlusconis italienische Justiz gegen Kapitän Stefan Schmidt vor, den damaligen Vorsitzenden des Hilfskomitees Cap Anamur, Elias Bierdel, sowie gegen den ersten Offizier Vladimir Daschkewitsch. Grund: Sie hatten im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Der absurde Vorwurf lautet: Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Die Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre Haft und 400000 Euro Geldstrafe.

Vertreter der evangelischen Kirche und von Flüchtlingshilfeorganisationen werden die Angeklagten zur Urteilsverkündung nach Agrigento auf Sizilien begleiten. Die Beschuldigten hätten nur getan, wozu jeder Bürger verpflichtet sei, sagte Lübecks Stadtpräsidentin Gabriele Schopenhauer bei der Verabschiedung der Unterstützer am Freitag. Kürzlich hatte sich auch Günter Grass auf einer Podiumsdiskussion zu dem Fall geäußert. Kapitän Schmidt habe nichts anderes getan, als in Seenot geratenen Menschen zu helfen, so der Literaturnobelpreisträger. »Das ist ein Zeichen von Zivilcourage, und dafür wünsche ich mir mehr Unterstützung.«

Die Internationale Liga für Menschenrechte wird dem Kapitän am 13. Dezember 2009 in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihen, weil die Rettungsaktion ein herausragender Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte an den Grenzen der Europäischen Union gewesen sei. Liga-Vizepräsident Rolf Gössner verbreitete aus Anlaß der bevorstehenden Urteilsverkündung eine Solidaritätserklärung des Vorstandes. Darin heißt es: »Die Gründe für das existenzgefährdende Strafmaß, für die nunmehr drei Jahre andauernde Zermürbung der Retter sowie die demonstrative Mißachtung der universellen Menschenrechte und humanitären Gebote sind fadenscheinig. Die Staatsanwaltschaft versucht – mit Unterstützung, wenn nicht sogar im Auftrag der italienischen Regierung – die Umsicht, mit der Stefan Schmidt seiner Fürsorgepflicht auf See nachkam, zu desavouieren: Die vorbildliche Handlung soll zum abschreckenden Beispiel werden.«

Die Liga stellte klar: »Eine solche Kriminalisierung humanitären Handelns werden wir nicht zulassen! Wir fordern Freispruch für die drei Angeklagten und ihre Rehabilitierung!«

Für den Fall eines Schuldspruchs kündigt die Liga gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen anhaltende Proteste auch über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus an. Italien stehe nicht über den Menschenrechten und die italienische Justiz nicht über elementaren Geboten der Menschlichkeit, heißt es.

Zugleich wiederholte die Liga ihre Forderung nach einer »grundlegenden Änderung der tödlichen Abschottungspolitik« der Europäischen Union. Hierzu müsse sich auch die neue Bundesregierung klar äußern. Ein Umdenken im Umgang mit Menschen auf der Flucht sei längst überfällig. »Das Mittelmeer – einst die Wiege der europäischen Kultur – darf nicht in ein Massengrab verwandelt werden. Eu­ropa muß Zufluchtswege schaffen und schützen!« Nicht die Hilfsorganisation Cap Anamur, sondern die Flüchtlingsabwehr der EU sei kriminell, erklärte die Bundestagsfraktion DIE LINKE. »Die neue Bundesregierung ist aufgefordert, sich aus der EU-Grenzschutztruppe Frontex zurückzuziehen und die dadurch freiwerdenden Kapazitäten für die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot einzusetzen.«