Artikel: Repression statt Bürgerrechte

Mehrere zehntausend Menschen werden heute in Berlin zur Großdemonstration gegen den Überwachungswahn von Staat und Wirtschaft erwartet. Ein breites Bündnis aus Bürgerrechtsgruppen, Berufsverbänden und Parteien von der Linken bis zur FDP unterstützt den Aufruf des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung. Die Berliner Demonstration ist Teil eines internationalen Aktionstages.

Kennzeichnend für die ausufernde Überwachungspraxis ist die Vorratsdatenspeicherung. Seit Jahresbeginn müssen Telekommunikationsanbieter die Verbindungsdaten aller Gespräche und E-Mails sechs Monate lang speichern. Diese Entwicklung steht symbolisch für einen Systemwechsel in der Innenpolitik: Staatliche Eingriffe in Grundrechte werden weit ins Vorfeld konkreter Gefahrenlagen ausgedehnt. Die Unschuldsvermutung und die Freiheit des Bürgers vor dem Staat bleiben dabei auf der Strecke. Besonders seit dem 11. September 2001 hat es eine wahre Flut von Überwachungsmaßnahmen gegeben. Die neue »Sicherheitsarchitektur« basiert auf einem kaum begrenzten staatlichen Kontrollanspruch und der Vermischung von Polizei, Geheimdiensten und Militär. Mit dem sogenannten Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin-Treptow und seiner »Antiterrordatei« wird die Trennung von nachrichtendienstlicher und polizeilicher Arbeit praktisch aufgehoben. Das soll neue Fahndungserfolge ermöglichen – tatsächlich scheint es eher Hysterie zu befördern. Die vor zwei Wochen spektakulär vorgenommene Verhaftung zweier angeblicher »Terrorverdächtiger« auf dem Kölner Flughafen entpuppte sich als Pleite, der Haftbefehl mußte mangels Fakten aufgehoben werden.

Doch dieser »Einzelfall« zeigt: Sicher vor Überwachung ist keiner. Besonders starker Kontrolle sind Nichtdeutsche ausgesetzt. Die Koalition gab am vergangenen Sonntag grünes Licht für die »Visa-Warndatei«. Wer mehrfach Menschen aus anderen, visapflichtigen Staaten nach Deutschland einlädt, wird als »Vieleinlader« erfaßt. Gastfreundschaft und die Inanspruchnahme selbstverständlicher Rechte ist verdächtig. Dieser obrigkeitsstaatliche Geist durchzieht die Gesetzgebung und prägt die polizeiliche Praxis.

Gerade die Polizeiarbeit wird in dramatischer Weise verändert. Am kommenden Mittwoch berät der Innenausschuß des Bundestags über das neue BKA-Gesetz. Die Regierung will ihren Entwurf unverändert durchboxen, obwohl es in einer Sachverständigenanhörung vernichtende Kritik hagelte. Ziel der »Reform« ist, das Bundeskriminalamt zur zentralstaatlichen Polizei auszubauen und ihm zugleich Befugnisse für quasi geheimdienstliche Methoden zu geben, insbesondere heimliche Videoüberwachung von Wohnungen und Online-Durchsuchungen.

Diesem freiheitsfeindlichen, kontrollwütigen Sicherheitsdenken entsprechen die Pläne, in die Personalausweise künftig biometrische Daten (Digitalfoto, Fingerabdrücke) einzubauen. Das wäre die präventive erkennungsdienstliche Behandlung aller Bürgerinnen und Bürger. Die einheitliche Steueridentifikationsnummer wird gerade Zug um Zug eingeführt; sie ist nichts anderes als das verfassungswidrige Personenkennzeichen in anderem Gewande.

Da, wo die Koalition wirklich handeln müßte, bleibt sie hingegen untätig. Ein verbesserter Datenschutz läßt auf sich warten. Trotz zahlreicher Skandale in der Wirtschaft, die immer unverblümter Angestellte beobachtet und Telefondaten speichert, läßt ein verbessertes Datenschutzgesetz auf sich warten.

Die Bundeswehr darf bei diesem freiheitsgefährdenden »Sicherheits«-Wahn nicht fehlen und soll nach dem Willen von CDU/CSU und SPD künftig verstärkt Inlandseinsätze durchführen – auch das wird zu Lasten der Grundrechte gehen, wie beim G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 gesehen.

Alles wird kontrolliert, nur die Arbeit der Geheimdienste nicht: BND und Verfassungsschutz leisten sich einen Skandal nach dem anderen, und nicht einmal das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages kann rückhaltlose Aufklärung gewährleisten.

Doch die Politik der Bundesregierung, die auf Repression und Kontrolle basiert, stößt auch auf Widerstand: So hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach Überwachungsgesetze zurückgewiesen und im Fall der Vorratsdatenspeicherung sogar eine einstweilige Anordnung getroffen. Langfristig ist aber die Bewegung auf der Straße unverzichtbar, um zu einer grundrechts­orientierten Linie zurückzukehren.

* Demonstration, Sonnabend 14 Uhr, Berlin, Alexanderplatz