Gefangen im Hotspot

EU-Türkei-Deal: Neues griechisches Asylgesetz hebelt Flüchtlingsschutz weitgehend aus. Quasiinhaftierungen in sogenannten Hotspots längst Realität

(Artikel aus junge Welt, 13. 4. 2016).

(besser darstellbar ist die Schwerpunktseite hier als pdf)

In Griechenland ist vorige Woche ein neues Asylgesetz in Kraft getreten, das die Umsetzung des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei ermöglichen soll. Es schränkt nicht nur die Chancen auf Asyl massiv ein, sondern sieht auch die Quasiinhaftierung sämtlicher Flüchtlinge in den neu errichteten »Hotspots« vor.

Der Deal zielt bekanntlich darauf, Flüchtlinge, die über die Ägäis auf die griechischen Inseln kommen, zurück in die Türkei zu schicken. Dabei ist für syrische Flüchtlinge ein sogenanntes Eins-für-eins-Verfahren vorgesehen: Für jeden, der in die Türkei zurückgeschoben wird, wird ein anderer von dort in die EU geholt. Das gilt für maximal 72.000 Personen und nur für solche Syrer, die vor dem 29. November 2015 in der Türkei registriert worden sind. Die konkrete Auswahl soll mit Hilfe des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) vorgenommen werden. Zugleich kreuzen NATO-Schiffe in der Ägäis, um der türkischen und griechischen Küstenwache Flüchtlingsboote zu melden, damit diese abgefangen werden.

Mit dem bisherigen griechischen Asylrecht wäre dieser Deal nicht machbar gewesen, weil es – wenn auch mehr auf dem Papier als in der Realität – Flüchtlingen eine umfassende Asylprüfung zusicherte.

Das neue Gesetz erweitert jetzt die Möglichkeiten, Asylanträge als »unzulässig« zurückzuweisen, sie also gar nicht erst inhaltlich zu prüfen, wenn die Antragsteller bereits in einem anderen Staat einen gewissen Schutzstatus erhalten haben. Nun gesteht die türkische Regierung syrischen Flüchtlingen zwar nur einen im Vergleich zur Genfer Flüchtlingskonvention abgesenkten und zeitlich befristeten Schutz zu. Dennoch können unter Verweis auf ihn künftig Asylanträge von Syrern in Griechenland abgewiesen werden, unbeschadet davon, dass die Türkei »die Kriterien eines sicheren Drittstaates nicht erfüllt«. Das schreibt das Projekt AIDA, eine Einrichtung des Europäischen Rates für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen.

Auf Grundlage des neuen Gesetzes werden neu ankommende Flüchtlinge künftig nahezu ausnahmslos inhaftiert. Regelrechte Gefängnishaft von bis zu 90 Tagen ist vorgesehen, wenn etwa die Identität von Schutzsuchenden oder die näheren Umstände ihres Asylantrages geprüft werden sollen und ihnen Fluchtgefahr unterstellt wird. Das kann auch Kinder treffen, die alleine auf der Flucht sind. Vollkommen unabhängig von irgendwelchen konkreten Vorwürfen sollen alle anderen Flüchtlinge künftig in sogenannten »Hotspots« interniert werden, im Behördensprech »Aufnahme- und Identifikationszentren«. Diese werden derzeit auf einer Reihe griechischer Inseln installiert. Der Begriff »Internierung« fällt zwar nicht explizit, aber AIDA bilanziert, der bloße Augenschein in den bestehenden Einrichtungen bestätige, dass die dortigen Flüchtlinge »in der Praxis ihrer Freiheit beraubt« sind. Und dafür gibt es keine zeitliche Befristung – der De-facto-Gewahrsam dauert die gesamte Zeit des Asylverfahrens. In »Ausnahmesituationen«, d. h. wenn eine große Zahl von Asylanträgen vorliegt, ist ein rigide verkürztes Verfahren vorgesehen. Die Flüchtlinge haben 15 Tage Zeit, gegen negative Entscheidungen Widerspruch einzulegen, über den dann binnen drei Tagen befunden werden soll. Grundlegende Verfahrensgarantien würden damit »unzweifelhaft beeinträchtigt«, so AIDA.

Die einzige positive Regelung des neuen Gesetzes ist, dass Personen, die seit mehr als fünf Jahren auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten, zunächst einmal eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Von 18.500 anhängigen Verfahren dürften fast 8.000 von dieser Altfallregelung profitieren. So gibt es afghanische Flüchtlinge, die sieben, ja 13 Jahre lang auf eine Entscheidung warten. Diese Zahlen verraten den größten Schwachpunkt der neuen Gesetzesregelungen: Das griechische Asylverfahrenssystem ist seit Jahren unglaublich desolat. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das jetzt innerhalb weniger Tage besser wird. Zwar sollen jetzt einige hundert Übersetzer aus anderen EU-Staaten, Mitarbeiter von Asylbehörden und von Frontex dabei helfen, aber noch gibt es nicht einmal Büroräume und technische Ausstattung für sie. Für die Flüchtlinge verlängert sich durch das Chaos nur ihre faktische Inhaftierung. In einem Punkt haben sie der EU-Politik allerdings schon einen Strich durch die Rechnung gemacht: Nachdem am 4. April die erste Rückführung von 202 Flüchtlingen in die Türkei stattgefunden hatte, verbreitete sich unter den restlichen Flüchtlingen in Griechenland in Windeseile die Nachricht, dass ein Asylantrag jedenfalls vorläufig vor einer Abschiebung in die Türkei schützt.

 

Elendslager Idomeni und Hafthotspot Moria

Das inoffizielle Lager bei Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze und der Hotspot-Knast Moria auf Lesbos haben eines gemeinsam: Den Flüchtlingen bleibt kein Ausweg. Auf einer Delegationsreise des Innenausschusses Anfang April konnte ich mir ein eigenes Bild von der katastrophalen Lage der Schutzsuchenden in Griechenland machen.

Das Lager bei Idomeni wird von den »Ärzte ohne Grenzen« und freiwilligen Helfern in unermüdlichem Einsatz betreut. Die staatlichen Kräfte lassen die Menschen komplett im Stich. Im Lager herrschen elende Zustände, es fehlt an allem. Täglich kommen neue Flüchtlinge an. Viele verlassen das Camp bei Idomeni jedoch wieder, wenn sie nach tage- oder wochenlangem ergebnislosen Ausharren am Ende ihrer Kräfte sind. Zuletzt zählten die Helfer rund 17.000 Menschen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Syrer, überwiegend Frauen und Kinder. Die meisten haben einen Anspruch auf Familiennachzug, können ihn jedoch nicht umsetzen. Täglich schwindet die Hoffnung, dass sich die Grenzen wieder öffnen, aber viele Flüchtlinge wollen und können nicht gehen. Wohin auch – es gibt für sie keine Alternative.

Im Haft-Hotspot Moria werden die Flüchtlinge nach Ankunft inhaftiert und registriert. Hohe Stacheldrahtzäune umschließen das Lager, die Menschen sind notdürftig in Containerbauten untergebracht. Auch hier kommt der überwiegende Teil der rund 3.700 Flüchtlinge aus Syrien. Jeder neunte Schutzsuchende ist ein Kind, jedes dritte davon ohne Eltern oder sonstige Angehörige unterwegs. Da in Griechenland die notwendigen Strukturen und das Personal fehlen, können die Schutzbegehren der neu ankommenden Flüchtlinge nicht geprüft werden. So bleiben diese nach der Registrierung auf unbestimmte Zeit in Haft und werden wie Kriminelle behandelt. Es gibt so gut wie keinen Zugang zu Rechtsberatung, nur wenige Flüchtlingshelfer dürfen das Lager betreten. Organisationen wie das UN-Flüchtlingskommissariat kümmern sich – so gut es geht – um die eingesperrten Flüchtlinge, wollen das Haftlager ansonsten jedoch in keinster Weise unterstützen oder sich am Aufbau beteiligen.

Die Situation in Griechenland verdeutlicht das Totalversagen der EU in der Asylpolitik. Was mit den Flüchtlingen dort geschehen soll, ist noch völlig unklar. Als Opfer einer unmenschlichen Abschottungspolitik werden sie in Abschiebeknästen zwischengeparkt, an europäischen Grenzen gewaltsam zurückdrängt und faktisch ihres Menschenrechts auf Asyl beraubt. (uj)

 

 

Mit Europas Asylsystem nicht vereinbar

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages bescheinigt NATO geplanten Völkerrechtsbruch

 

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einem Gutachten für die Linksfraktion festgestellt, dass die ursprüngliche Absicht der NATO, in der Ägäis aufgegriffene Flüchtlinge kollektiv in die Türkei zurückzubringen, gegen das EU-Recht verstößt. Er hält das Gutachten für so brisant, dass er dessen Veröffentlichung untersagt hat.

Seit Anfang März 2016 kreuzen sieben Kriegsschiffe der NATO in der Ägäis. Sie verdeutlichen, welche militärischen Formen die Abschottung der »Festung Europa« gegenüber Flüchtlingen mittlerweile angenommen hat. Unter Führung des deutschen Einsatzgruppenversorgers »Bonn« soll die NATO den Seeraum zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln überwachen und ihre Erkenntnisse dem jeweiligen Küstenschutz übermitteln. Im Fall, dass die Schiffe dabei auf in Seenot befindliche Flüchtlinge stoßen, sollen diese aufgegriffen und kollektiv in die Türkei zurückgebracht werden. Die Bundesregierung bestätigte im Bundestag ausdrücklich, es sei vorgesehen, die Aufgegriffenen »in sichere Häfen in der Türkei zu verbringen«. Gegen diese Vereinbarung bestünden »keine grundlegenden völker- oder europarechtlichen Einwände«.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, den die Linksfraktion daraufhin mit einem Gutachten beauftragte, sieht das allerdings ganz anders. Er analysierte das Vorhaben unter dem Gesichtspunkt der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta und mehrerer EU-Richtlinien und kommt zu dem Schluss: Zumindest bei Flüchtlingen, die innerhalb griechischer Hoheitsgewässer aufgegriffen würden, sei eine direkte Überstellung in die Türkei »mit den Grundsätzen des gemeinsamen europäischen Asylsystems nicht vereinbar«. Jeder, der dort einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, habe ein Recht auf individuelle Prüfung und dürfe solange nicht abgeschoben werden. Im Hinblick auf das Verbot der Kollektivausweisung dürften sich Schiffe des Militäreinsatzes »nicht an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beteiligen, ohne dass den an Bord genommenen Personen zuvor Zugang zu den unionsrechtlich garantierten Rechten ermöglicht worden ist.«

Auch die Regelung des neuen griechischen Asylrechts, entsprechende Anträge als unzulässig einzustufen, wenn die Betroffenen in der Türkei – theoretisch – irgendeine Form von Schutz erlangen können, ändert daran nichts: Denn auch in diesen Fällen müsse jedem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, in einer persönlichen Anhörung individuelle Gründe gegen seine Rückschiebung vorzubringen. Das schließt auch die Möglichkeit ein, den Rechtsweg zu beschreiten.

Da die geforderten Prüfungen auf einem Kriegsschiff faktisch nicht möglich sind, müssen die Betroffenen folglich nach Griechenland gebracht werden, so das Gutachten.

Ohnehin ist der Wissenschaftliche Dienst skeptisch, was den »sicheren« Status der Türkei angeht: »Aufgrund von Berichten verschiedener Nichtregierungsorganisationen sowie von entsprechenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist der Verdacht jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat in der Türkei nicht umfassend in jedem Einzelfall gewährleistet sein könnten.« Griechenland habe in jedem Einzelfall die Pflicht festzustellen, dass den Flüchtlingen in der Türkei weder eine Verfolgung noch ihre Weiterverbringung in ein anderes Land droht. Und das kann dauern. Solange freilich bleiben die Flüchtlinge in den Hotspots interniert.

Das Gutachten ist von den Bundestagswissenschaftlern als Verschlusssache eingestuft worden. Das sei geboten, weil »das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen haben kann auf internationale Beziehungen«, schreibt die Abteilung für Europarecht.