Artikel: Bewußte Eskalation

Ein Forscherteam der Universität Rostock kommt in einer aktuellen Studie zur Einschätzung, daß es bei der politischen, juristischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung des Pogroms in Lichtenhagen vor 20 Jahren »immer noch Leerstellen« gibt. Dies gelte insbesondere für die Rolle der damals verantwortlichen Politiker, der Medien und die Hintergründe des fatalen Polizeieinsatzes, heißt es in der 88 Seiten umfassenden Publikation »20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt« des Instituts für Politik- und Verwaltungswissenschaften.

Die Untersuchungsausschüsse sowohl der Stadt Rostock als auch des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern hätten darauf verzichtet, »lückenlos aufzuzeigen, wer was wann wo getan oder gelassen hatte«. Dem Untersuchungsausschuß des Landtags war die PDS damals ferngeblieben, die SPD stimmte gegen den Abschlußbericht, weil zentrale Fragen verschleppt und unzureichend untersucht worden seien, darunter zum Polizeieinsatz, zur Rolle organisierter Neonazis, zum Verfassungsschutz und zur Verantwortlichkeit führender Politiker. Daran hätten auch die Rücktritte des Rostocker Oberbürgermeisters und des Landesinnenministers nichts geändert.

Im Bereich der Justiz sei die Aufarbeitung ebenfalls nur rudimentär erfolgt. Die meisten Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, darunter auch die gegen Polizeiführer. Der Frage, inwiefern das Täterverhalten erst durch den Rückzug bzw. das Nichtagieren von Polizei und Politik ermöglicht worden war, gingen die Gerichte nicht nach. Die wenigen Urteile waren recht milde: So endete der letzte Prozeß im November 2001 gegen vier Beschuldigte mit einer Verurteilung wegen versuchten Mordes und versuchter Brandstiftung – zu maximal eineinhalb Jahren auf Bewährung.

Den örtlichen Medien, insbesondere der Ostsee-Zeitung und den Norddeutschen Neuesten Nachrichten, werfen die Autoren der Studie vor, sich durch die Wiedergabe rassistischer Leserbriefe und gleichlautender Bürgerkommentare »als Transporteur und Legitimationsinstanz solcher Vorstellungen« erwiesen zu haben. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu kurz gekommen sei die spezifisch antiziganistische Komponente der damaligen Stimmungsmache: Die Mehrzahl der Flüchtlinge in Rostock damals waren Roma aus Rumänien, denen wiederholt eine »völlig fremde Lebensart« und Kriminalität nachgesagt worden waren.

Im Versuch, das Pogrom zu begreifen, verweisen die Autoren zunächst auf die damals vorliegenden sozio-ökonomischen Umstände, insbesondere die für Ostdeutsche unbekannte Massenarbeitslosigkeit. Dabei hätten sich »soziale Abstiegsängste mit einem völkischen Nationalismus« gepaart. Die Studie bezeichnet das Pogrom als »konformistisch-autoritäre Revolte«: Die Gewalttäter hätten zwar Gesetze verletzt, dies aber in dem Glauben, »in Übereinstimmung mit national-staatlichen Interessen« zu handeln. Die Aggressoren hätten quasi einen Ansporn geben wollen, den Staat »zu zwingen, die gewohnte Ordnung durch autoritäre Lösungen aktiv wieder herzustellen«, sprich: Rostock-Lichtenhagen ausländerfrei zu machen.

Dabei legen die Autoren nahe, daß die verantwortlichen Politiker die Eskalation sehenden Auges provoziert haben, indem sie es unterließen, den haarsträubenden Zuständen rund um das Asylwohnheim Abhilfe zu leisten: Die Flüchtlinge mußten in Zelten vor der Zentralen Aufnahmestelle kampieren; der Rostocker Innensenator (SPD) verweigerte sowohl mobile Toiletten als auch zusätzlichen Wohnraum. Die daraus resultierende Verschmutzung der Nachbarschaft wurde von der Bevölkerung dann wiederum auf die »fremde Lebensart« der Roma geschoben. So seien die Roma von den Behörden »zum Aggressionsobjekt des Pöbels« gemacht worden.

Zu den Folgen des Pogroms zählt die Studie allerdings auch die Entstehung antirassistischer Initiativen wie des Rostocker Bündnisses »Bunt statt braun«, das wiederholt Friedensfeste und ähnliches durchführt. Zugleich weisen die Autoren auf die Notwendigkeit hin, »positiv« besetzte interkulturelle Veranstaltungen nicht in entpolitisierte Imagekampagnen umschlagen zu lassen, sondern auch gezielt nach verantwortlichen Personen und Strukturen zu fragen.

Und noch eine Leerstelle ist zu konstatieren: Während die NPD vorigen Sommer vor dem historischen Tatort zu Wahlkampffotos posierte, hat sich die »Zivilgesellschaft« bis heute weder auf Ort noch Inhalt eines Gedenkens geeinigt.