Artikel: Tod von Staats wegen

Die Antirassistische Initiative in Berlin hat die Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« auf den neuesten Stand gebracht. In der 16. aktualisierten Auflage wird an Hand von rund fünftausend Einzelgeschehnissen aus dem Zeitraum von 1993 bis 2008 beschrieben, wie sich die Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen und die rigide Flüchtlingspolitik Deutschlands auf die Betroffenen ausgewirkt haben.

Das Ergebnis: Durch staatliche Maßnahmen kamen nach den Recherchen der Initiative seit 1993 mindestens 375 Flüchtlinge ums Leben, durch rassistische Übergriffe und Brände in Sammelunterkünften starben 82 Menschen. Auf dem Weg in die Bundesrepublik oder an den Grenzen starben beim Versuch der Einreise in den letzten fünfzehn Jahren 175 Flüchtlinge, 480 Personen erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen. 150 Menschen töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Ausweisung zu fliehen. 56 dieser Todesfälle betrafen Menschen in Abschiebehaft. Fünf Personen starben während der Abschiebung, 31 Flüchtlinge kamen danach in ihrem Herkunftsland ums Leben, 70 verschwanden spurlos. 67 Flüchtlinge starben bei Bränden oder Anschlägen auf ihre Unterkünfte, 15 wurden durch rassistische Angriffe auf der Straße getötet.

Nach offiziellen Angaben des Bundesinnenministeriums leiden 130203 Menschen unter einem prekären Aufenthaltsstatus, vor allem der sogenannten Duldung. Die Betroffenen müssen mit einem staatlich verordneten Ausreisedruck leben. Die Dokumentation stellt fest: »Wer es nicht mehr aushält, taucht ab und versucht, als Papierloser zu überleben«. Papierlos – und somit der Willkür und Denunziation völlig schutzlos ausgeliefert – sind, unterschiedlichen Schätzungen zufolge, bis zu einer Million Menschen. Ferner wird geschildert, daß auch die Anerkennung als Asylbewerber, die nur wenige Flüchtlinge bekommen, kein Leben ohne Furcht vor Abschiebung ermöglicht. 2008 ist 6433 Personen durch Widerrufsverfahren der Asylstatus nachträglich wieder aberkannt worden. Derzeit werden 14576 gültige Asylbescheide dahingehend überprüft. Die Auswirkungen: »Jahrelange Perspektivlosigkeit und existentielle Angst führen zu schweren Traumatisierungen bei den Flüchtlingen und ihren Familien«, so die Antirassistische Initiative Berlin. Wie jedes Jahr werden in der Dokumentation neue skandalöse Einzelfälle von Behördenwillkür sowie bedrückende menschliche Schicksale geschildert. So wurde gegen einen zwanzigjährigen Kurden, der sich am 5. August 2008 in Abschiebehaft in der JVA Rottenburg in Selbsttötungsabsicht anzündete, wegen versuchter schwerer Brandstiftung ermittelt. Nach notärztlicher Versorgung wurde er unter Kontaktsperre weiter inhaftiert und drei Wochen später zwangsweise in die Türkei ausgeflogen. In Istanbul wurde der junge Mann sofort vier Stunden verhört und immer wieder geschlagen.

Ein anderer Flüchtling, ein Ashkali, der sich seit seinem zweiten Lebensjahr in Deutschland aufhielt, wurde am 1. Mai 2008 trotz eines Suizidversuchs und fortbestehender akuter Eigengefährdung aus der Rheinhessen-Klinik Alzey geholt und nach Pristina ausgeflogen. Am 12. Oktober 2008 holten die Behörden in NRW eine psychisch schwer angeschlagene Frau aus dem Krankenhaus Beckum und wollten sie mit ihrem Mann, aber getrennt von ihren drei minderjährigen Kindern abschieben.

Die vollständige Dokumentation umfaßt zwei Hefte zum Gesamtpreis von 18 Euro.

1611855_Tote_an_den_Grenzen.pdf

1612029_Fluechtlingszahlen-Aufenthaltstitel.pdf