Erklärung: Zur aktuellen Debatte um den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich

Bereits am 12. August 2002 thematisierte ich die „Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern“ in einer kleinen Anfrage der PDS-Fraktion an die Bundesregierung zur Unterstützung einer Petition des Vereins der Völkermordgegner. In dieser Anfrage hieß es:
„Der Völkermord an den armenischen Bürgern des Osmanischen Sultanats von 1915/16 war der Höhepunkt des Vernichtungs- und Vertreibungsprogramms der im Ersten Weltkrieg allein regierenden nationalistischen Partei „Einheit und Fortschritt“ („Jungtürken“). Ihre Politik der ethnischen Homogenisierung richtete sich in der Tendenz gegen alle nicht türkischen Ethnien.“
Militärische Niederlagen der osmanischen Armee sowie lokal beschränkte Versuche armenischer Selbstverteidigung gegen Pogrome gaben der Junta um Enver, Cemal und Talaat im Frühjahr 1915 den Vorwand zur Realisierung ihres völkermörderischen Programms. »Verbannung ins Nichts« nannte Innenminister Talaat die angeblich »kriegsbedingte Umsiedlung« der armenischen Bevölkerung. Eine „Spezialorganisation“ rekrutierte Todesschwadrone aus kurdischen Stämmen und freigelassenen Schwerverbrechern. Die Hälfte der Armenier kam durch Pogrome an ihren Siedlungsorten um, die anderen wurden in Todeszügen in die mesopotamischen Wüsten deportiert, wo sie vor Durst, Hunger und Hitze starben.
Ökonomische Motive spielten eine entscheidende Rolle. Der von der türkischen Nationalversammlung 1922 rückwirkend legitimierte Raub armenischen Eigentums diente der primären Akkumulation türkischen Kapitals. Um einer Bestrafung zu entgehen, flüchteten sich viele Verantwortliche für den Völkermord nach der Kriegsniederlage in die Befreiungsarmee Mustafa Kemals. Die personelle und organisatorische Kontinuität der Vernichtungsmaschinerie der Jungtürken in Kemals Befreiungsarmee bildet die größte historische Hypothek der heutigen Republik Türkei.
Deutsche Offiziere, die seit 1913 im Rahmen einer Militärmission die Türkei als Waffenbruder für den Weltkrieg aufrüsteten, gehörten zu den Mitwissern und Gehilfen des Völkermordes. Für den von der Deutsche Bank betriebenen Bau der Bagdadbahn wurden unzählige armenische Zwangsarbeiter eingesetzt und anschließend mit Hilfe der Bahn deportiert. Während die deutsche Reichsregierung aus Rücksicht auf den türkischen Waffenbruder zu den Massakern schwieg, thematisierte einzig der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht die „Ausrottung der türkischen Armenier“ in einer kleinen Anfrage.
Der Genozid kostete wissenschaftlichen Untersuchungen zur Folge über eine Millionen Menschenleben. Hintergründe und Verlauf des Völkermordes sind durch zahlreiche Originalquellen etwa in den Schriften von Zeitgenossen wie Johannes Lepsius sowie in wissenschaftlichen Untersuchungen von türkischen, deutschen, armenischen und internationalen Historikern wie Taner Akcam, Wolfgang Gust u.a. längst aufgearbeitet.
Dennoch bestreitet die türkische Regierung bis heute, dass es einen Genozid an den christlichen Armeniern und Aramäern/Assyrern gegeben hätte. Die Thematisierung dieses Völkermordes ist Grund zahlreicher Prozesse gegen Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler. So wurde Hrant Dink, der Herausgeber der türkisch-armenischen Zeitung „Agos“, im Oktober 2005 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Auch Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk musste sich wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ vor einem Istanbuler Gericht verantworten, weil er im Interview mit einer Schweizer Zeitung erklärt hatte: »30.000 Kurden und eine Million Armenier wurden in der Türkei getötet.«
Auch bei der Auseinandersetzung um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern muss allerdings gefragt werden, ob sie der Aufarbeitung der Vergangenheit oder aktuellen politischen Zielen dienen. So zog die Grünen-Politikerin Angelika Beer im April 2004 auf einer Gedenkveranstaltung für den Armeniergenozid Parallelen zur Lage der bosnischen Muslime und Albaner im Kosovo, um die deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu rechtfertigen. Und CDU-Politiker bemühen die türkische Leugnung des Genozids als Argument gegen einen EU-Beitritt der Türkei.
Eine solche Instrumentalisierung lehne ich ab. Doch über eine Anerkennung der türkischen Verantwortung und deutschen Mitschuld an der Ermordung der osmanischen Armenier kann es keine Diskussion geben.

Erklärung_GenozidArmen.pdf