Artikel: Tödliche Folgen der Abschottung

Seit nunmehr zwölf Jahren hat die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre Folgen im Blickfeld. Jedes Jahr gibt die Gruppe eine aktualisierte Dokumentation heraus, die jene Fälle auflistet, in denen Flüchtlinge Opfer staatlicher Maßnahmen werden. Die 1993 begonnene Liste umfaßt mittlerweile fast 350 Seiten und listet Tausende von Verletzungen und viele Todesfälle auf, die die Flüchtlingspolitik verursacht hat.

Die Instrumente dieser Politik bestehen im wesentlichen aus umfangreichen Grenzsicherungsanlagen an den Ostgrenzen, einer möglichst unerträglichen Aufenthaltsgestaltung und einer rigorosen Abschiebepraxis. Die hermetische Abschottung der »Festung Europa« hat dazu geführt, daß immer weniger Flüchtlinge überhaupt nach Deutschland gelangen. Die Zahl der Asylanträge ist im vergangenen Jahr mit knapp 29 000 auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken. Die Anerkennungsquote beträgt gerade noch 0,9 Prozent.

Zwischen Einreise und Abschiebung steht häufig die Einweisung in Lager oder gleich die Verbringung in den Abschiebeknast, wo – bedingt durch die spezifischen Umstände der »Unterbringung« – immer wieder Menschen zu Schaden kommen. Überfüllte Sammelunterkünfte in abgelegenen ländlichen Gebieten oder personell schlecht ausgestattete Abschiebegefängnisse werden zu Todesfallen, wenn es brennt oder einer der Insassen schwer erkrankt.

Die Zahlen sind erschreckend: Über 4 700 Einzelgeschehnisse beschreiben »die Auswirkungen des institutionellen Rassismus auf die Betroffenen«, so die Herausgeber. 162 Todesfälle waren seit 1993 allein an den Grenzen zu verzeichnen, davon 121 an den Ostgrenzen. Noch mehr Menschen wurden verletzt, zynischerweise in vier Fünftel der Fälle »durch Bisse von Zoll- und Diensthunden«.

Die permanente Angst vieler Flüchtlinge vor Abschiebungen führt immer wieder zu Selbstverletzungen oder Selbsttötungen. Die Dokumentation verzeichnet für die Zeit nach 1993 131 Selbstmorde bzw. tödliche Unfälle aus Angst vor Abschiebung oder beim Versuch, zu fliehen. 629 Flüchtlinge haben sich aus den gleichen Motiven verletzt bzw. versucht, sich umzubringen, einige mit sogenannten Risikohungerstreiks. Im Abschiebeknast, in der Ausländerbehörde und oft noch auf dem Flughafen versuchen verzweifelte Menschen, sich der Abschiebung in unbekannte, längst fremd gewordene Länder zu entziehen, in denen ihnen unter Umständen staatliche Verfolgung droht. »Durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen während der Abschiebung« wurden mindestens 299 Menschen verletzt, fünf kamen zu Tode.

Was nach der Abschiebung mit den Flüchtlingen passiert, läßt sich in der Regel nur schwer nachvollziehen. »Mindestens 397 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert«, 62 sind verschwunden, 23 gestorben. Die Dunkelziffer ist hier genauso hoch wie bei allen anderen Angaben. Wie sollte auch beispielsweise das ganze Ausmaß der psychischen Verletzungen von Flüchtlingen erfaßt werden, die zum Teil über zehn Jahre lang auf eine Entscheidung zwischen Bleiberecht oder Abschiebung warten?

Info: »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen. Dokumentation 1993 bis 2005.« Kontakt: ARI, Tel. 0 30/74 39 54 32

Aus: junge welt vom 21. März 2006