Licht ins »Dunkelfeld«

Staatlicher Rassismus mit tödlichen Folgen: Initiative dokumentiert Polizeigewalt gegen Geflüchtete

von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 10.07.2020)

 

Seit 1993 wurden mindestens 1.298 geflüchtete Menschen in Deutschland durch Gewaltanwendungen von Polizei und Bewachungspersonal verletzt. In 28 Fällen endete diese Gewalt tödlich. Das teilte in dieser Woche die Antirassistische Initiative (ARI) mit, die seit den Asylrechtsverschärfungen 1993 die »tödlichen Folgen« der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik dokumentiert. Die Sammlung enthält neben Fällen direkter Gewaltanwendung durch Polizei und Wachdienste auch die von Suiziden und Selbstverletzungen etwa wegen einer drohenden Abschiebung, Todesfälle durch unterlassene Hilfeleistung sowie Informationen zu rassistischen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte oder Asylsuchende im öffentlichen Raum. Diese unterschiedlichen Formen der Gewalt versteht die ARI als Folge einer rassistischen Gesetzgebung.

Anlässlich der Debatten über institutionellen Rassismus nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai in den USA hat die Initiative ihre Dokumentation mit Blick auf Fälle von Polizeigewalt gegen Geflüchtete in Deutschland ausgewertet. 24 Tötungen und 1.050 zum Teil schwerste Verletzungen entfallen auf die direkte Einwirkung von Bediensteten der Polizei, heißt es in der Pressemitteilung.

Unter den Todesopfern rassistischer Polizeigewalt ist Aman Alizada, der am 17. August 2019 im Alter von 19 Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft im niedersächsischen Stade von der Polizei erschossen wurde. Er war 2015 aus der afghanischen Provinz Ghazni über den Iran, die Türkei und Griechenland nach Deutschland geflohen. Er machte einen Schulabschluss, lernte schnell Deutsch und war nach Angaben der ARI als freundlicher und hilfsbereiter junger Mann bekannt. Zugleich war er schwer traumatisiert. Nachdem kurz vor seinem 18. Geburtstag sein Asylantrag abgelehnt wurde und seine psychologische Betreuung endete, verschlechterte sich sein Zustand.

Am Tag seines Todes verständigte ein Freund die Polizei, weil Alizada sich in einer psychotischen Krise befand. Die Polizisten setzten Pfefferspray gegen den jungen Mann ein, obwohl ihnen seine psychische Erkrankung bekannt war. Als er eine Hantelstange in die Hand nahm, schoss ein Beamter auf ihn. Die Polizei rechtfertigte die Erschießung mit Notwehr, die Ermittlungen gegen den Todesschützen wurden Mitte Juni 2020 eingestellt. Nach Einschätzung der ARI ist dies kein Einzelfall. Selbst bei schweren Verletzungen und Tötungen durch die Polizei müssten die verantwortlichen Beamten meist keine straf- und dienstrechtlichen Konsequenzen fürchten. Statt dessen komme es mit dem reflexhaft geäußerten Notwehrargument zu einer Kriminalisierung der Opfer von Polizeigewalt.

Wie schwierig es ist, Licht in das »behördliche Dunkelfeld« zu bringen, zeigt auch der Tod von Rooble Warsame am 26. Februar 2019 in einer Schweinfurter Polizeizelle. Polizisten nahmen den Geflüchteten aus Somalia nach einer Ruhestörung im sogenannten Anker-Zentrum Schweinfurt um fünf Uhr morgens in Gewahrsam. Zweieinhalb Stunden später wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden. Die Behörden behaupten, Warsame habe sich mittels eines Stoffstreifens am Zellengitter stranguliert. Allerdings wecken zahlreiche Ungereimtheiten Zweifel an dieser Darstellung. So war das »Strangulationswerkzeug« auf einer Höhe von 1,50 Meter befestigt – der 1,78 Meter große Warsame soll durch »atypisches Erhängen« in hockender Haltung bei vollem Bodenkontakt gestorben sein. Den Stoffstreifen soll er zuvor mit bloßen Händen von einer Polizeidecke abgetrennt haben. Angehörige widersprechen der Suizidthese und fordern eine unabhängige Untersuchung.

Die Ursache für Polizeigewalt gegen Geflüchtete sieht die ARI in einem gesellschaftlich verankerten Rassismus. Geflüchtete seien polizeilichen Maßnahmen aufgrund ihrer weitgehenden Entrechtung schutzlos ausgeliefert. Oft werde Gewalt gegen sie in Haftzellen, Flüchtlingslagern oder auf Abschiebeflügen ausgeübt. An diesen »Orten der Isolation« hätten die Betroffenen kaum Möglichkeiten, sich gegen gewalttätige Beamte zu wehren.