Rede: Gedenken an Opfer der Aktion

Anrede,

vor wenigen Tagen hatte ich eine Broschüre des Finanzministeriums in der Hand, in der zusammengefasst worden ist, was die Bundesrepublik bereits an Entschädigungszahlungen geleistet hat. Die Gesamtsumme war durchaus beeindruckend, immerhin 67 Milliarden Euro. Das sollte man nicht kleinreden, denn es ist zu einem großen Teil ein Erfolg von Opferverbänden und außerparlamentarischen Basisgruppen, zu denen auch der AK Marginalisierte gehört.

Dennoch ist die Geschichte der Entschädigung vor allem eine Geschichte der Verdrängung. Sie wird als Erfolg verkauft, um nach einem Schlussstrich zu rufen.
So heißt es in der Ministeriumsbroschüre, es sei „ein Gesetzeswerk gelungen, das nahezu alle durch NS-Unrecht verursachten Schäden erfasst“. Und weiter: „Alle vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen stehen zueinander in einem nach Grund und Umfang der Schädigung ausgewogenen Verhältnis.“

Das ist ein starkes Stück. Kann man allen Ernstes glauben, es könne für das Unrecht, was die Nazis ihren Opfern angetan haben, eine „ausgewogene“ Entschädigung geben? Entschädigung kann es für materielle Güter geben, aber sie kann niemals in einem „ausgewogenen“ Verhältnis zu KZ-Haft und Peinigung stehen. Sie wird immer symbolisch bleiben. Wer das nicht einsieht, glaubt offenbar, sich aus der historischen Verantwortung freikaufen zu können.

Gerade die sogenannten „Asozialen“ sind durch die Raster der Entschädigungsgesetzgebung gefallen. Das Bundesentschädigungsgesetz war ausschließlich für die Opfer NS-typischer Verfolgung gedacht. Sogenannte Arbeitsscheue, Landstreicher usw. waren aber in den Augen der bundesdeutschen Entschädigungsbürokratie keine NS-Opfer, sondern Kriminelle. Sie blieben in der Nachkriegszeit weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und fanden kaum Gehör, und das gilt leider für beide deutsche Staaten.

Wie gering das regierungsoffizielle Interesse an dieser Opfergruppe heute noch ist, hat vor zwei Jahren die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage gezeigt.
Bekannt sind nur rudimentäre Fakten, die unter anderem von den KZ-Gedenkstätten bzw. den einschlägigen Stiftungen zusammengestellt wurden. So weiß man, dass im KZ Sachsenhausen mindestens 11500 sog. Asoziale eingeliefert worden waren, davon allein 6300 während der Aktion „Arbeitsscheu Reich“. Gestorben sind hiervon 2600.

Auf meine Fragen, wie viele Menschen als sogenannte Asoziale verfolgt wurden, wie viele zwangssterilisiert, gesundheitlich geschädigt, zum Tode verurteilt, hingerichtet wurden usw. – kam die Antwort, die Regierung habe hierüber keine Kenntnis.

Nun soll man niemandem vorwerfen, wenig zu wissen. Das Problem ist, dass die Regierung es gar nicht wissen will. Ich zitiere Ihnen Frage und Antwort: „Falls die Bundesregierung keine detaillierten Kenntnisse zu den vorangegangen Fragen hat: welche Anstrengungen will sie unternehmen, um sich diese Kenntnisse zu beschaffen?“ Antwort: „Keine“.
Und das finde ich absolut beschämend. Das zeigt leider, einmal mehr, dass die Menschen, um die es hier geht, von der offiziellen Politik bis heute ignoriert werden.

Nur wenn es ums Geld geht, weiß die Regierung Bescheid. Vom Bundesentschädigungsgesetz blieben sie ausgeschlossen, aber diejenigen, die lange genug überlebt hatten, konnten später Zahlungen nach den Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes beziehen. Diese sind genau erfasst:
Es haben:
163 „Asoziale“
17 Arbeitsverweigerer
24 Arbeitsscheue
1 Landstreicher
jeweils eine Einmalzahlung in Höhe von 5000 DM bzw. knapp 2500 Euro erhalten.

Das macht zusammen 205 Menschen – von mehreren Zehntausend NS-Opfern. Sie haben 2500 Euro dafür erhalten, dass sie Monate und Jahre im KZ saßen.
Wie sich die Bundesregierung da hinstellen und sagen kann: „Das geltende System der Entschädigung für NS-Unrecht entspricht den Anforderungen“, das ist für mich absolut nicht nachvollziehbar.

Diese Gleichgültigkeit wird selbst da deutlich, wo es um politisches Gedenken geht. Es gibt kein Denkmal für die sog. Asozialen. Die Bundesregierung führt dazu aus: Soweit es sich bei den sog. Asozialen zugleich um Sinti und Roma oder um Homosexuelle handelte, könnte man ihrer ja am Denkmal für die verfolgten Homosexuellen bzw. die verfolgten Sinti und Roma gedenken (das gerade gebaut wird). Weitere Initiativen seien nicht geplant. Bei einem solchen Gesellschaftsbild bleibt einem schier die Spucke weg.

Bei den sog. Asozialen ist das öffentliche Interesse sehr gering. Deswegen sind die Bemühungen des AK Marginalisierte, der Opfer dieser NS-Verfolgung zu gedenken, eine notwendige und rühmliche Ausnahme. Ich freue mich, an diesen Bemühungen teilhaben zu können, und werde sie auch in Zukunft gerne unterstützen. Entschädigung und Gedenken bleiben für mich auf der Tagesordnung.

100613_Arbeitsscheu_Reich.pdf