Artikel: Politik contra Sachverstand

Denselben Geist der Ausgrenzung atmet der gesamte, 492 Seiten starke Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Aufenthalts- und Asylrecht. Diese umfassendsten Verschärfungen der Vorschriften zur Migrations- und Flüchtlingspolitik wurden am Montag von fast allen Sachverständigen im Innenausschuß des Bundestags heftig kritisiert. Stefan Kessler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst hob hervor, daß man Personen, deren Duldung abgelaufen sei, künftig nicht mehr raten könne, ein Amt aufzusuchen, um ihre Rechtsverhältnisse zu ordnen. Ihnen drohe dort nämlich die sofortige Festnahme. Heftig kritisiert wurde auch die Erschwerung des Familiennachzugs. Künftig sollen ausländische Ehepartner deutsche Sprachkenntnisse schon vor der Einreise in die BRD nachweisen. Klaus Dienelt vom Bundesverwaltungsgericht widersprach der Auffassung der Bundesregierung, daß diese Zugangshürde wegen einer EU-Richtlinie erforderlich sei. Vielmehr habe der Bundestag hier eigenen Regelungsspielraum.

Ausländerrechtsexperte Rechtsanwalt Reinhard Marx kam ebenso wie andere Sachverständige zu dem Ergebnis, daß die geforderten Sprachkenntnisse das Recht aus Artikel 6 Grundgesetz auf Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft beeinträchtigen; die Vorschrift werde in Karlsruhe keinen Bestand haben.

Die CDU/CSU gibt offen zu, daß sie damit die Zuwanderung von Frauen aus der Türkei, insbesondere aus den kurdischen Gebieten, verhindern will. Der von der Union benannte Sachverständige Christian Hillgruber erntete Kopfschütteln bei den Oppositionsabgeordneten, weil er fernab jeder Realität behauptete, auch in entlegenen Gegenden könnten die jungen Frauen ja über Sendungen der Deutschen Welle oder mit audiovisuellen Hilfsmitteln Deutsch lernen; eine zynische Auffassung, der die Abgeordnete der Linksfraktion Sevim Dagdelen unter Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse in bildungsfernen Milieus deutlich widersprach.

Der von der CDU/CSU benannte Ausländerrechtsexperte Kay Heilbronner mußte einräumen, daß der Gesetzentwurf keine Lösung für den im Fall Murat Kurnaz bekannt gewordenen Mißstand enthält, daß nämlich ein Aufenthaltsrecht nach sechs Monaten auch dann automatisch erlischt, wenn der Betroffene zwangsweise an der Rückkehr in die BRD gehindert war.

Da trotz fast sechsstündiger Sitzungsdauer nur ein kleiner Teil der Probleme aufgerufen werden konnte und beispielsweise Fragen der Abschiebungs- und Zurückweisungshaft, der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen oder die Lage Illegalisierter noch zu erörtern sind, beschloß der Ausschuß auf Antrag der Opposition einen weiteren Anhörungstermin am 5. Juni 2007.

Zuerst erschienen in: junge Welt vom 23. Mai 2007