Artikel: Schwerin rechnet nach

Das Land Mecklenburg-Vorpommern läßt zehn Tötungsdelikte auf einen möglichen rechtsextremen Hintergrund prüfen. Innenminister Lorenz Caffier (CDU) vollzieht damit eine Kehrtwende: Noch vor einem halben Jahr hatte er eine solche Untersuchung kategorisch ausgeschlossen.

Von den zehn Delikten gehören fünf Fälle zu bislang ungeklärten Schwerverbrechen, die Ende vorigen Jahres vom Bundeskriminalamt (BKA) als überprüfungswürdig eingestuft wurden. In fünf weiteren Fällen habe ein rechtes Motiv bislang nicht festgestellt werden können. Sie wurden nun aber ans BKA gemeldet, weil nicht ausgeschlossen werden könne, daß sich dort neue Ermittlungsansätze ergeben oder Querverbindungen zu Delikten in anderen Bundesländern auftauchen könnten, berichtete am Donnerstag die Nachrichtenagentur dpa. Außerdem wurden Informationen zu vier weiteren Fällen übermittelt, bei denen ein rechtsextremer Hintergrund bereits nachgewiesen ist. Darunter sind auch Akten zur Ermordung von Mehmet Turgut in Rostock, die der Neonaziterrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) zugeschrieben wird.

Die nachträgliche Überprüfung von zehn bislang nicht als »politisch motiviert« eingestuften Tötungsdelikten steht in Zusammenhang mit einer bundesweiten Initiative, das tatsächliche Ausmaß neonazistischer Gewalt zu eruieren. Ausschlaggebend dafür ist der öffentliche Druck, den es nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie auf die Ermittlungsbehörden gegeben hat. Im neu errichteten Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/-terrorismus (GAR) wurde eine »AG Fallanalyse« eingerichtet. Dieses beschäftigt sich einem Bericht der Bundesregierung vom Frühjahr 2013 zufolge »mit der Überprüfung von nicht aufgeklärten ›Altfällen‹ aus dem Bereich der allgemeinen Schwer- und Gewaltkriminalität hinsichtlich eines möglicherweise bis dahin nicht erkannten Bezugs zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK)-rechts«. Im vorigen Dezember wurde bekannt, daß das Bundeskriminalamt insgesamt 3300 vollendete sowie versuchte Tötungsdelikte überprüft hat, wovon 746 Taten mit 849 Opfern Anhaltspunkte für eine mögliche rechtsextreme Motivation ergeben haben (jW berichtete). Der untersuchte Zeitraum reicht bis 1990 zurück. Diese Fälle sollen bis Mitte dieses Jahres von den Bundesländern erneut überprüft werden. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums gegenüber der Internetplattform Netz gegen Nazis liegt der Überprüfung ein Kriterienkatalog zugrunde, zu dem Nationalität, Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, Reli­gion oder sexuelle Orientierung des Opfers gehören.

Der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Schweriner Landtag, Peter Ritter, sprach von einer »Kehrtwende« Caffiers, die zum »anhaltende(n) Lavieren im Aufklärungsprozeß der NSU-Mordserie und der diesbezüglichen Verantwortung der Sicherheitsbehörden im Land« passe. Es sei bedauerlich, daß der Landesinnenminister erst auf Druck von außen bereit sei, sich den notwendigen Fragen zu stellen.

Im Mai vorigen Jahres hatte Caffier einen Antrag der Linksfraktion und der Grünen, mögliche rechtsextreme Gewalttaten zu untersuchen, noch abgelehnt. Darunter war ein Mord, an dem ein glatzköpfiger Täter mit Springerstiefeln beteiligt war, sowie ein Mord an einem Asylbewerber, bei dem die Tatverdächtigen rassistische Äußerungen von sich gegeben hatten. Es sei alles schon bestens überprüft, hatte Caffier damals behauptet.

Offiziell geht die Bundesregierung bislang von 63 Todesopfern von neonazistischen Tätern seit 1990 aus – eine Liste des Tagesspiegels und des Sterns zählt hingegen 152 Menschen. Einer der größten Haken der vom BKA angeregten nachträglichen Untersuchung ist deren Beschränkung auf Delikte, bei denen bislang die Täter nicht ermittelt werden konnten. Eine Überprüfung »abgeschlossener« Fälle, bei denen die Täter möglicherweise zu Unrecht als unpolitisch eingestuft wurden, ist damit ausgeschlossen.