Artikel: Serie von »Ermittlungspannen«

In der Innenausschußsitzung des Deutschen Bundestages vom 18. August 1993 klagte der FDP-Abgeordnete Wolfgang Lüder: »Wir haben jetzt – das finde ich ganz besonders schlimm für die Informationsarbeit der Regierung – eine neue Positionierung der Leiche (des Wolfgang Grams). In jedem Bericht hat die Leiche eine andere Position. Wie erklärt sich das eigentlich?« Diese Äußerung quittierte der CDU-Abgeordnete Johannes Gerster mit dem Zwischenruf: »Die Gleise haben sich verschoben.« Der Zynismus ist insofern charakteristisch für den gesamten Ermittlungsprozeß, als er dafür steht, wie die Wahrheit systematisch verbogen worden ist.

Ähnliche Lageänderungen wie die von Grams »Leiche« – auf den Gleisen hatte Grams noch gelebt, gestorben ist er erst im Krankenhaus – hatte auch die Pistole erfahren, die bei ihm gefunden wurde. Zunächst, hieß es, habe sie rechts von ihm gelegen. Nun lag Grams aber auf seiner rechten Hand, diese konnte er also nicht zum Schießen bei seiner von offizieller Seite behaupteten Selbsttötung benutzt haben. Dementsprechend hieß es nach zwei Monaten, die Waffe habe links gelegen, nach einem Jahr wiederum, das ließe sich nicht mehr so genau rekonstruieren.

An Fakten eingeräumt wurde immer nur, was Journalisten schon herausgefunden hatten. Auch der Innenausschuß des Bundestages wurde nur mit Häppchen teilweise falscher Informationen abgespeist. Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) mußte »offensichtliche Fehler, Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel« einräumen und trat zurück. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde wegen des »Informationschaos« in den Ruhestand geschickt, die verantwortlichen BKA-Einsatzleiter strafversetzt. Sogar die Auflösung der GSG 9 stand zur Diskussion.

Um Grams Fingerabdrücke zu nehmen, wurden ihm noch auf dem Gleis die Finger gereinigt. Vor der Obduktion wuschen BKA-Beamte den Leichnam. Beide Male wurden damit Spuren vernichtet, was später mit der »unzureichenden Erfahrung« der Beamten erklärt wurde. Grams Schußwaffe wurde zu Probezwecken mehrfach »abgefeuert« und erst danach auf Blut- und Gewebereste untersucht. Auf die Idee, sie auf Fingerabdrücke zu untersuchen, kamen die Ermittler erst nach vielen Wochen, als es keine verwertbaren Spuren mehr gab.

Noch Tage nach dem Polizeieinsatz fanden Journalisten – ich war damals selbst dabei – Patronenhülsen im Gleisbett. Sie stammten von Schüssen, die es bis dahin offiziell überhaupt nicht gegeben hatte.

Es dauerte Tage, bis alle GSG-9-Beamten ihre Waffen zur Untersuchung abgaben, und Wochen, bis ihre Uniformen im Labor eintrafen – auch sie waren gewaschen worden. Die Polizisten der Spezialeinheit gaben bei ihren Vernehmungen immer wieder exakt wortgleiche Formulierungen zu Protokoll, sie hatten sich offensichtlich abgesprochen. Eine der größten Merkwürdigkeiten ist allerdings: Niemand will den tödlichen Schuß gesehen haben. Alle 99 Beamte, die am Tatort waren, hatten nicht in Richtung des fliehenden Verdächtigen gesehen, sondern gleichzeitig zufällig ganz woandershin geblickt.

Manche Gutachter deuteten Verletzungen an Grams Hand dahingehend, daß ihm die Waffe gewaltsam »entwunden« worden sei, was die Exekutionsthese stützt. Andere hielten dagegen, das Blutspritzerbild stütze die Suizidthese.

Das Ergebnis wochenlangen Vertu­schens und Manipulierens war schließlich das Fazit der ebenfalls herangezogenen Polizei der Stadt Zürich: Es gebe »keine neuen Erkenntnisse, die zwingend gegen eine Selbstbeibringung des Nahschusses durch Grams sprechen würden.«

Die Taktik, mit solchen Skandalen umzugehen, ist auch heute noch vertraut, wie sich am Fall der NSU-Mörder zeigt: Die enge Zusammenarbeit von V-Leuten mit den Neonaziterroristen führt ebenfalls zu großer Empörung und zu einer Krise vor allem des Inlandsgeheimdienstes. Und wieder geriert sich die behördliche Aufklärung als parteiisch: Man hört von »Pannen«, »Versäumnissen« und »individuellem Fehlverhalten«, um eine Krise des Gesamtsystems abzuwenden. Es werden Beweise vernichtet (Akten geschreddert) und es wird Desinformation betrieben. Als Ausweg wird eine Umstrukturierung des Sicherheitsapparates empfohlen, nicht der Ausbau der demokratischen Kontrolle. Damals sollten GSG 9 und BKA sowie die Länderbehörden besser aufeinander abgestimmt werden, heute steht eine »Reform« des Verfassungsschutzes zur Diskussion, die ihn »effektiver« machen soll.