Artikel: Debatte zur Unzeit

Die Erarbeitung eines Einwanderungsgesetzes kann unter kapitalistischen Voraussetzungen keine Aufgabe für Linke sein

  
Von Ulla Jelpke (erschienen am 19.12.2017 in der jungen Welt)

Die Debatte um ein Einwanderungsgesetz wird nicht nur von SPD und Grünen vorangetrieben. Auch innerhalb der Linkspartei gibt es insbesondere in den ostdeutschen Landtagsfraktionen entsprechende Forderungen. Im Parteiprogramm heißt es ohne direkte Bezugnahme auf ein solches Gesetz: »Deutschland ist ein Einwanderungsland«, und weiter: »Die Linke lehnt eine Migrations- und Integrationspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als ›nützlich‹ oder ›unnütz‹ gelten. Wir wollen die soziale und politische Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen erreichen. (…) Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenze für alle Menschen. (…) Die Linke richtet ihre Flüchtlingspolitik nach Humanität und Menschenrechten, so dass der Schutz von Menschen in Not im Vordergrund steht und nicht ordnungspolitische und ökonomische Überlegungen.«

Diesen Grundsätzen widerspricht ein im September 2016 von der thüringischen Landesregierung unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) gemeinsam mit den Landesregierungen Niedersachsens, Schleswig-Holsteins und von Rheinland-Pfalz in den Bundesrat eingebrachter Entschließungsantrag »Für ein Einwanderungsgesetz: Einwanderung offensiv gestalten und effektiv regeln«. Denn darin wird argumentiert, dass es »im ureigensten deutschen Interesse« läge, »für qualifizierte und talentierte Fachkräfte« attraktiver zu werden, »die wir in Zukunft unabweisbar brauchen werden«. Dieser Antrag, der sich Forderungen der Unternehmerverbände nach billigen Fachkräften aus dem Ausland zu eigen macht, bemisst Einwanderer nach ihrer Nützlichkeit für die deutsche Wirtschaft.

Utopischer Ansatz

Mit dem Anspruch, ein an humanitären Grundsätzen orientiertes Gegenmodell zu einem solchen ökonomischen Nützlichkeitsdenken vorzulegen, kam 2016 aus den Reihen der ostdeutschen sowie aus der Berliner Linksfraktionen die Initiative für eine »Projektgruppe Einwanderungsgesetz«. Diese hat Anfang 2017 die aktuell diskutierte Konzeption vorgelegt. Ausgehend von der Forderung nach offenen Grenzen werden Eckpunkte für sichere und legale Einreisemöglichkeiten formuliert. Mit dem Begriff »sozialer Anknüpfungspunkt« soll ein Maßstab bestimmt werden, wer einreisen und wer nach Ablauf eines Jahres bleiben darf. Ein solcher Anknüpfungspunkt soll neben Familie oder Arbeit bereits das Engagement in einem Verein oder das Singen in einem Chor sein. Das erscheint unter den gegenwärtigen (kapitalistischen) Umständen stark erklärungsbedürftig, wenn nicht gar utopisch. So ist die programmatische Forderung nach offenen Grenzen als langfristiges Ziel in den Gesamtrahmen der von der Partei Die Linke angestrebten sozialistischen Transformation der Gesellschaft eingebettet. Eine solche visionäre Grundsatzposition stünde in einem Gesetzestext völlig isoliert da.

Ein Einwanderungsgesetz ist per definitionem immer ein Gesetz zur Begrenzung der Einwanderung und zur Auswahl der Immigranten. Es muss auch die Bestimmungen definieren, unter denen ein Migrant Deutschland wieder verlassen muss. Auch das vorn angesprochene Konzept von 2016 aus den Reihen der Partei erklärt eine »zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht« für zulässig, wenn kein Abschiebehindernis vorliegt. Die Einschränkung besteht darin, dass »der Zielstaat eine konkret-individuelle und nachvollziehbare Zusicherung abgegeben hat«, dass er einen Migranten wieder aufnimmt und für diesen »bei einer Rückkehr eine menschenwürdige Existenz gewährleistet ist«. Einerseits erscheint diese Forderung angesichts der weltweiten Realität naiv und in der Praxis nicht kontrollierbar, andererseits würde Die Linke hier erstmals selbst an der Ausarbeitung einer Abschiebegesetzgebung mitwirken. Damit wäre aber eine rote Linie überschritten.

Auch wenn es an den guten Absichten der Projektgruppe keinen Zweifel gibt und vieles an ihrem Konzept unterstützenswert erscheint, muss die Frage gestellt werden, inwieweit ihre Forderungen heute von links sinnvoll in die Debatte eingebracht werden können. Denn diese findet nicht im luftleeren Raum statt. Vielmehr ist die gesellschaftspolitische Situation gekennzeichnet von einem allgemeinen Rechtsruck, offenem Rassismus auf den Straßen und im Parlament, fremdenfeindlichen Kampagnen von CDU/CSU bis AfD sowie zahlreichen rassistischen Übergriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte.

Es gibt heute keine breite außerparlamentarische Bewegung zur Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und Migranten. Wir haben 2015 und in den Jahren danach zwar eine als Willkommenskultur gefeierte Solidarität breiter Gesellschaftsgruppen mit Geflüchteten erlebt. Wohlfahrts- und Sozialverbände, Kirchen und Gewerkschaften sowie viele Bürgerinnen und Bürger engagieren sich hier. Doch eine weitergehende gesellschaftliche und politische Debatte fehlt. Das unterscheidet diese neue Bewegung von vorangegangenen Flüchtlingsprotesten in den Jahren 2012 bis 2014. Die damaligen Demonstrationen, Platz- und Hausbesetzungen, Camps und Hungerstreiks in vielen Städten gingen von den Geflüchteten selbst aus. Selbstbewusst formulierten diese ihre politischen Forderungen: Aufhebung der Residenzpflicht und des Arbeitsverbots, Aussetzung von Abschiebungen und Änderung europäischer Asylregeln wie die zu sogenannten sicheren Drittländern und Herkunftsstaaten. Eine Bewegung von antirassistischen linken Gruppierungen und Einzelpersonen unterstützte diese Kämpfe. Es gelang damals, die Forderungen der Geflüchteten zumindest in kommunale Gremien zu tragen, wenn auch die von politischer Seite gegebenen Zusagen sich längerfristig oft als leere Versprechungen erwiesen. Die neue Flüchtlingssolidarität ab 2015 beschränkte sich auf eine Art praktischen Humanismus, weitergehende kollektive Kämpfe von Geflüchteten und ihren Unterstützern blieben aus. So konnte kein außerparlamentarischer Druck erzeugt werden, um auch nur einen Teil der flüchtlingsfeindlichen Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre zu verhindern.

Angesichts der massiven Rechtsentwicklung hier im Land, aber auch europaweit erscheint es nachgerade als ein Luxus, jetzt in der Linkspartei eine Debatte über ein nicht realisierbares Einwanderungsgesetz zu führen, anstatt darüber zu beraten, wie Abwehr und Widerstand gegen den zunehmen Rassismus, der sich auch in neu verabschiedeten Gesetzen niederschlägt, aussehen kann. Es erscheint unverständlich, warum sich Linke überhaupt unter Zugzwang gesetzt sehen, den im Kern immer selektiven Charakter eines Einwanderungsgesetzes mit emanzipatorischen Zielen vereinen zu wollen. Schließlich besteht das Dilemma eines solchen Gesetzesvorschlags darin, dass er entweder in der öffentlichen Debatte als geradezu spinnert zerlegt und in der Konsequenz sogar propagandistisch gegen Die Linke gewendet wird. Oder aber er wird auf der Suche nach parlamentarischen Mehrheiten durch eine Anpassung an die aktuelle kapitalistische Realität zu einem neoliberalen Rumpfgesetz verstümmelt, das ein paar humanitäre Alibiregelungen enthält, wie im Falle der von der Thüringer Landesregierungen mitgetragenen Bundesratsinitiative.

Verteidigung der Rechte

Eine Linke mit antikapitalistischem Anspruch darf keine Mitverantwortung für die Verheerungen des Kapitalismus einschließlich Flucht und Migration übernehmen. Und sie darf sich auch nicht zur Vollstreckerin von daraus resultierenden angeblichen Sachzwänge machen, indem sie dazu beiträgt, diese in Gesetzesform zu gießen. Statt dessen sollte die Linke sich für die Verteidigung, den Ausbau und die Festschreibung von Rechten für Einwanderer stark machen: Also für das Recht auf sicheren Aufenthalt, auf Familiennachzug und schnelle Einbürgerung, aber auch die Anerkennung im Ausland erworbener beruflicher Qualifikationen. Die Durchsetzung gleicher sozialer und demokratischer Rechte für alle, die hier leben, ist entscheidend, um zu verhindern, dass Einwanderer gegen diejenigen mit deutscher Staatsbürgerschaft als rechtlose und damit erpressbare Lohndrücker ausgespielt werden können.

Es gilt zudem die Frage der Einwanderung von der des Asylrechts zu trennen. Das linke Einwanderungskonzept trägt hier leider zu einer Verschleierung der Unterschiede bei. Unabhängig von der Debatte über ein Einwanderungsgesetz gilt es, nicht nur für die Verteidigung, sondern für die vollständige Wiederherstellung des in den letzten 25 Jahren stark beschnittenen Grundrechtes auf Asyl einzutreten. Angesichts der Realität einer Festung Europa, die mit Hilfe von Despoten wie Erdogan und libyschen Bürgerkriegsmilizen Schutzsuchende schon davon abhält, überhaupt europäischen Boden zu erreichen, muss bereits um den Erhalt des Asylrechts gerungen werden.

»Grenzen auf für Menschen in Not« bleibt eine nicht verhandelbare Forderung, wobei »Not« aus Sicht der Partei Die Linke nicht nur politische Verfolgung und Krieg, sondern auch Armut und soziale Perspektivlosigkeit beinhaltet. Die reichen Länder des globalen Nordens tragen durch ihre Kriegspolitik, ihre Rüstungsexporte sowie eine dem globalen Süden aufgezwungene neoliberale Wirtschaftspolitik mit ausbeuterischen Handelsabkommen eine erhebliche Mitverantwortung für Flucht und Armutsmigration. Darauf muss Die Linke immer wieder hinweisen und für gerechte Weltwirtschaftsbeziehungen sowie die Beseitigung von Ungleichheiten im globalen Maßstab eintreten. Denn eine ernsthafte Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Voraussetzung, um sagen zu können: »Keiner soll kommen müssen, alle sollen bleiben dürfen.«