Ein Kriegsszenario

Die Konzeption der »Zivilverteidigung« à la Unionsparteien weist der Bevölkerung ­lediglich die Funktion von Bundeswehr-Hiwis zu

 

Um den Schutz der Bevölkerung vor Naturkatastrophen und Unglücksfällen geht es in dem Sicherheitskonzept, das Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vorgestern in einem Berliner Wasserwerk vorstellte, am allerwenigsten. Die »Konzeption Zivile Verteidigung«, wie das Papier benannt ist, stellt vielmehr auf ein Kriegsszenario ab. (Schwerpunktseite in junge Welt, 26. 8. 2016)

Als oberste Aufgabe für Zivilisten und zivile Behörden definiert es die Hilfeleistung – aber nicht etwa für die bedrohte Bevölkerung, sondern fürs Militär: Im einzelnen, so streicht das Konzept heraus, gehöre unter anderem dazu, die Funktionsfähigkeit von Staat und Verwaltung zu sichern und dazu beizutragen, die »Operationsfreiheit« der Bundeswehr zu gewährleisten. »Zivilverteidigung« ist demnach in erster Linie ein scheinbar ziviles Mittel der Kriegführung.

Ausdrücklich folgt die Konzeption der »Bedrohungseinschätzung« des »Weißbuchs« der Bundeswehr. Dabei wird unmissverständlich eine Abkehr von der Entspannungspolitik nach der Beendigung des Kalten Krieges festgestellt. Als wahrscheinlichste Bedrohungen gelten jetzt »hybride Konflikte mit sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Konfliktparteien und Gegnern«. Was die »staatlichen Gegner« angeht, kann nach Lage der Dinge nur Russland gemeint sein, dem ja bereits in der Ukraine verdeckte Kriegführung vorgeworfen wird. Hinzu kommen terroristische Anschläge oder Angriffe im Cyberraum, also die Manipulation von Computeranlagen etwa in sensiblen Versorgungseinrichtungen oder Kraftwerken.

Konkrete Vorgaben macht das Papier (noch) nicht, es fungiert als »konzeptionelles Basisdokument«, das den grundlegenden Rahmen beschreibt, der von den einzelnen Bundesressorts noch auszufüllen ist. Denen wird allerdings mit auf den Weg gegeben, sich »auf allen Ebenen« an den militärischen Planungen der NATO zu orientieren.

Dabei wird deutlicher als jemals seit Ende der Blockkonfrontation auf die Notstandsgesetze Bezug genommen, insbesondere auf das sogenannte Arbeitssicherstellungsgesetz. Dieses kann die Kündigung militärisch relevanter Arbeitsverhältnisse verbieten. Außerdem erhält die Bundesagentur für Arbeit im Spannungs- und Verteidigungsfall das Recht, Personen in Arbeitsverhältnisse »in lebens- und verteidigungswichtigen Bereichen« zu verpflichten. Letzteres gilt allerdings nur für Wehrpflichtige, weswegen das Konzept auch mit dem Gedanken spielt, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Dafür würde ein einfaches Gesetz genügen. Außerdem wird beklagt, dass Frauen im Gegensatz zu Männern »lediglich in ein Arbeitsverhältnis im zivilen Sanitäts- und Heilwesen« sowie in Militärlazaretten verpflichtet werden können. Man müsse prüfen, inwieweit diese Beschränkung »noch sachgerecht« sei – eine unbeschränkte Zwangsdienstpflicht für Frauen ist damit ebenfalls im Gespräch.

Vorgesehen ist auch die bevorrechtigte Versorgung der Bundeswehr mit Energie und Lebensmitteln. In diesem Zusammenhang wird sogar eine planwirtschaftliche Konzeption in Erwägung gezogen: Für den Fall, dass den Streitkräften nicht mehr genügend Lebensmittel über den freien Markt zur Verfügung stehen, könne eine Versorgung »im Wege einer geordneten Produktion und Verteilung der Lebensmittel durch hoheitliche Bewirtschaftung der Lebensmittelerzeugung und Lebensmittelverteilung« erfolgen. Das soll prinzipiell auch für die Versorgung von Zivilisten gelten, denen aber durchweg nur die Rolle des »Unterstützers« der Armee zugeschrieben wird. In diesem Zusammenhang steht auch der Aufruf an die Bevölkerung, sich mit Nahrungsmitteln und Wasser für mindestens fünf bis zehn Tage einzudecken. Weitere Abschnitte des Konzepts beschäftigen sich mit der Versorgung mit Treibstoffen, Strom, Medikamenten, der Abfallentsorgung und Abwasserbeseitigung.

Womit sich das Papier nicht beschäftigt: mit dem Schutz der Bevölkerung vor realen Gefahren. Unglücksfälle oder Anschläge, die Atomkraftwerke, Anlagen der chemischen Industrie usw. treffen könnten, werden nur gestreift. Dabei gäbe es hier tatsächlich einiges zu üben, denn außerhalb von Hochwasserregionen hat man in Deutschland kaum Erfahrung mit der Bewältigung von Notlagen. Wie rasch die Behörden an ihre Belastungsgrenzen stoßen, zeigte sich letztes Jahr bei der Flüchtlingsaufnahme – und da kamen Hunderttausende Flüchtlinge nicht innerhalb weniger Wochen, sondern übers Jahr verteilt. Es wäre daher tatsächlich sinnvoll, sich auf konkrete Szenarien wie etwa einen tagelangen Stromausfall vorzubereiten. Doch statt die zivilen Einrichtungen der Katastrophenhilfe zu stärken – was auch ein Ende der Rotstiftpolitik im öffentlichen Dienst bedeuten würde –, entwickelt die Union absurde Kriegsszenarien und vermischt Unglücke, Terroranschläge, Krieg und Bürgerkrieg, um eine Art neues Notstandsgesetz durchzudrücken.

Das ist nicht nur Panikmache, sondern auch ein Bärendienst am Katastrophenschutz. Denn wer der Bevölkerung als aktuelle Bedrohung verkaufen will, der Russe stehe kurz vor einem verdeckten Einmarsch in Deutschland, oder Anschläge des »Islamischen Staates« hätten das Potential, ähnlich wie in Syrien oder dem Irak das Funktionieren von Staat und Verwaltung zu gefährden, riskiert zu Recht, nicht ernst genommen zu werden. Damit wird zugleich die zivile Katastrophenvorsorge diskreditiert. In jedem Fall werden die falschen Prioritäten gesetzt, nämlich abstrakt militärische statt konkret zivile.

Der Zusammenhang mit dem Wahlkampf ist offensichtlich: Die Union will sich weiter als Hardlinerin in Sachen innere Sicherheit profilieren. Ergänzend zur Forderung nach mehr Überwachungsgesetzen, erweiterten Geheimdienstbefugnissen, Videokameras und Burka-Verbot wird jetzt auch eine militärische Bedrohung durch Russen und Islamisten heraufbeschworen.

 

Zivil-militärische Zusammenarbeit

 

Die Bundeswehr stellt den Katastrophenschutz in ihren Dienst

 

In das Konzept der militärischen »Zivilverteidigung« sollen auch zivile Hilfsorganisationen integriert werden: Die »ehrenamtlichen Hilfeleistungspotentiale« bei Freiwilliger Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Rotem Kreuz und anderen Organisationen werden als »Basis und Rückgrat« des Systems beschrieben, auf das der Bund für den – militärischen – Zivilschutz »zugreift«. Diese Vorstellung reiht sich ein in eine Serie von Maßnahmen der sogenannten zivil-militärischen Zusammenarbeit. Diese wurde, nachdem die Union ihre Pläne für eine Grundgesetzänderung für Inlandseinsätze der Bundeswehr mangels Mehrheit zurückstellen musste, in den letzten Jahren systematisch ausgebaut.

Dazu gehören zum einen Kooperationsabkommen etwa zwischen Bundeswehr und Rotem Kreuz, anderen Sanitätsorganisationen und Technischem Hilfswerk, die diese Organisationen näher ans Militär rücken sollen. Zum anderen wird die Militarisierung befördert, indem die Bundeswehr direkt in die eigentlich zivilen Strukturen des Katastrophenschutzes vordringt.

Für diesen Zweck wurden im Jahr 2007 bundesweit 441 Kommandos aus Reservisten auf Landes-, regionaler und kommunaler Ebene aufgestellt und Katastrophenschutzstäben von Rathäusern und Regierungspräsidien zur Seite gestellt. Im Ernstfall können sie, wie es offiziell heißt, Unterstützungsleistungen bei Naturkatastrophen oder »Großschadenslagen« leisten. Der politisch entscheidende Punkt ist dabei die Definitionsmacht über den Begriff »Katastrophe«. Auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion hin hatte die Bundesregierung schon vor Jahren auch einen Militäreinsatz anlässlich von Streiks im Transport-, Energie- oder Gesundheitswesen sowie bei der Müllabfuhr für prinzipiell möglich erklärt: Eine Entscheidung darüber werde vom »jeweiligen Einzelfall« abhängig gemacht. Die im Luftsicherheitsgesetz verankerte Absicht, die »Hilfe« in Katastrophenlagen bis hin zum Abschuss eines terrorverdächtigen Flugzeugs zuzulassen, wurde vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2006 kassiert. Im Jahr 2012 änderte das Gericht allerdings seine Rechtsprechung und erklärte militärische Mittel zur Katastrophenabwehr für prinzipiell zulässig. Im gleichen Jahr begann der Aufbau sogenannter Regionaler Sicherungs- und Unterstützungskräfte der Bundeswehr, die ebenfalls bis auf weiteres aus Reservisten bestehen. Ihre Aufgabe wird als »Heimatschutz« beschrieben – das umfasst nach Darstellung der Bundeswehr auch Hilfe in tatsächlichen Katastrophenlagen. Oberste Priorität hat aber die militärische Unterstützung der Truppe im Verteidigungsfall oder bei der Niederschlagung innerer Unruhen.

Vor wenigen Wochen hat die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gefordert, Bundeswehr und Polizei müssten gemeinsame Übungen durchführen, um sich für Inlandseinsätze fit zu machen. Zu den ersten Unterstützern dieser Forderung gehörte die »grün-schwarze« Landesregierung Baden-Württembergs.

 

Hintergrund:

Die »Konzeption Zivile Verteidigung« (KZV) betont den »untrennbaren Zusammenhang zwischen militärischer und ziviler Verteidigung«:

»Zivile Verteidigung« habe »die Aufgabe, alle zivilen Maßnahmen zu planen und durchzuführen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Versorgung und des Schutzes der Bevölkerung erforderlich sind. Hierzu gehört im einzelnen, (…) die Streitkräfte bei der Herstellung und Aufrechterhaltung ihrer Verteidigungsfähigkeit und Operationsfreiheit zu unterstützen.«

»Die transatlantische Partnerschaft im Rahmen der NATO ist eine der zentralen Grundlagen. (…) Die entsprechenden strategischen und konzeptionellen Vorgaben der NATO haben damit auch Auswirkungen auf das nationale Fähigkeitsprofil. Die daraus resultierenden Planungsvorgaben fließen auf allen Ebenen in die Planungen der Fachressorts ein.«

»Maßnahmen zur Härtung der Bausubstanz von Wohn- und Arbeitsgebäuden werden vom Bund empfohlen, gefördert oder verpflichtend vorgegeben« (als Schutz vor chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Angriffen; jW).

Zu »Objektschutz« heißt es: »Die schutzbedürftigen militärischen Objekte und zivilen Objekte mit militärischer Bedeutung werden nach Vorgaben des Verteidigungsressorts identifiziert und priorisiert.«

»Die Bundesregierung kann über den Erlass von Rechtsverordnungen entlang der Lebensmittelwarenkette Verfügungsbeschränkungen und Abgabepflichten hinsichtlich des Anbaus, der Verarbeitung, Verteilung und des Verkaufs von Lebensmitteln erlassen.«