Kommentar: Kolonialherrenart

Euro-afrikanische Migrationsabkommen

Der Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei stockt bereits zwei Monate nach seinem Abschluss. Weil die EU mit der zugesagten Visafreiheit für Türken zögert, fühlt sich der türkische Präsident Erdogan nicht mehr an die Abmachungen gebunden. Der Hader mit dem Despoten führt nicht etwa zu einem Umdenken in Brüssel. Der EU-Türkei-Deal soll vielmehr Vorbild für weitere Pakte zunächst mit den afrikanischen Staaten Tunesien, Niger, Äthiopien, Mali, Senegal, Nigeria und Libyen sowie den Nahost-Staaten Jordanien und Libanon sein. Diese Länder, so formuliert es EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos, müssten überzeugt werden, »illegale Migranten« wieder zurückzunehmen, konsequent gegen Menschenschmuggler vorzugehen und wirksam ihre Grenzen zu sichern. Als »Migrationspartnerschaften« bezeichnet die EU-Kommission euphemistisch die geplanten Abschottungsabkommen, deren Ziel die weitreichende Verhinderung einer Migration aus diesen Ländern ist.Die EU erhofft sich gegenüber den ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika ein leichteres Spiel als bei den Verhandlungen mit dem NATO-Partner Türkei. Entsprechend tritt die EU-Kommission in Kolonialherrenart auf. Wer nicht gehorcht, wird sanktioniert, etwa durch Kürzungen bei der Entwicklungshilfe, lautet die Drohung. Wer dagegen bereit ist, Türsteher der EU-Flüchtlingsabwehr zu spielen und in Europa nicht willkommene Flüchtlinge aus Drittstaaten zurückzunehmen, der soll gönnerhaft mit Geld und verbesserten Handelsbeziehungen belohnt werden. Einer hat sich dieser »Partnerschaft« schon verweigert: »Wir werden nicht akzeptieren, dass die EU Migranten zu uns zurückschickt. Europa muss Wege finden, sie in ihre Heimatländer zurückzubringen. Sie können nicht bei uns leben«, erklärte der Premier der libyschen »Einheitsregierung«, Fajes Al-Sarradsch. »Man muss die Lösung in den Ursprungsländern der Migranten suchen. Sie brauchen politische und wirtschaftliche Stabilität und Entwicklungschancen. Wir brauchen eine gemeinsame Vision mit der EU, um das Problem der Migration zu beenden.« Wahrscheinlich hofft der Mann, der zwar von den Vereinten Nationen unterstützt wird, faktisch aber nur über einen Teil des Landes herrscht, auf mehr finanzielle Mittel aus dem Ausland.Denn eine humanitäre Vision gemeinsam mit der EU erscheint schlichtweg undenkbar: Durch das Anheizen von Stellvertreterkriegen zur Sicherung billiger Rohstoffe für europäische Konzerne, das Leerfischen der afrikanischen Küstengewässer durch die EU-Fangflotte, ausbeuterische Handelsverträge und neokoloniale Militärexpeditionen ist die EU-Politik selbst die primäre Fluchtursache für Millionen. So macht sich die EU gleich in zweierlei Hinsicht am Leid dieser Schutzsuchenden schuldig – indem sie ihnen zuerst die Lebensgrundlage entzieht und sich anschließend mit dreckigen Deals aus der humanitären Pflicht zum Schutz dieser Flüchtlinge stiehlt.

erschien in junge Welt vom 8.6.2016