Nach den Massakern von Paris

Meine Trauer gehört den über 130 Opfern der Massaker des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Paris. Mein Beileid gilt ihren Angehörigen und Freunden. Gleichwohl kann ich in den Anschlägen in Paris keine „neue Dimension“ des Terrors sehen, nur weil diesmal  hauptsächlich Europäer in einer westeuropäischen Metropole die Opfer waren. Denn ich trauere ebenso um über 120 Zivilisten, die der IS im Juni bei einem erneuten Angriff auf die syrisch-kurdische Stadt Kobani an einem einzigen Tag niedermetzelt hatte und die der internationalen Presse nur noch eine kurze Nachrichtenmeldung wert waren. Ich trauere um über 130 linke Aktivistinnen und Aktivisten in der Türkei, die bei zwei Selbstmordanschlägen des IS in Suruc und Ankara im Juli und Oktober getötet wurden. Und meine Trauer gilt den 224 Insassen eines russischen Flugzeuges, zu dessen Absturz über Ägypten sich Anfang November ebenfalls der IS bekannt hatte, ohne das in europäischen Hauptstädten die Fahnen auf Halbmast gezogen wurden. Ein solches Messen mit zweierlei Maß auch in der Trauer offenbart eine überheblich-koloniale Sichtweise, die einfach unerträglich und verlogen ist.

Doch ebenso unerträglich ist es, wenn jetzt rechte Ordnungspolitiker versuchen, die Toten von Paris für höchst fragwürdige innen- und sicherheitspolitische Zwecke auszuschlachten. Die deutschen Geheimdienste sollen nach dem Willen der Bundesregierung mit 500 Planstellen weiter aufgerüstet werden. Der Bundesnachrichtendienst soll gestärkt werden, obwohl er weder die eigenen Bürger noch Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Bespitzelung durch den US-Dienst NSA schützen konnte sondern diesem im Gegenteil noch zuarbeiten. Ebenfalls gestärkt werden soll der Verfassungsschutz, dessen zwielichtige Rolle in Verbindung mit dem NSU-Nazi-Terror bis heute nicht aufgearbeitet ist. Und in der Union ertönt erneut der Ruf nach einem – verfassungswidrigen – Einsatz der Bundeswehr als „Hilfspolizei“ im Inland.

Paris ändere alles, die Zeit „unkontrollierter Zuwanderung und illegaler Einwanderung kann so nicht weitergehen“, twitterte CSU-Generalsekretär Markus Söder, während Welt-Korrespondent Matthias Matussek durch den Terror von Paris „auch unsere Debatte über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen“ sieht. Erfreulicherweise bekamen Söder wie Matussek deutliches Kontra aus den eigenen Reihen. Doch es ist nicht zu übersehen, dass Pegida&Co bis hin zum rechten Rand der Unionsparteien die Pariser Anschläge jetzt zu weiterer Stimmungsmache gegen Flüchtlinge im Allgemeinen und Muslime im Besonderen nutzen werden. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Flüchtlinge auf der Flucht vor dschihadistischem Terror in Syrien, dem Irak und Afghanistan ist, erscheint eine solche Stimmungsmache mehr als perfide.

Es mag eine schmerzhafte Erkenntnis sein: aber der syrische Präsident Bashar al Assad hat recht, wenn er einer „fehlgeleiteten“ französischen Politik eine Mitverantwortung an der „Verbreitung des Terrorismus“ gibt. So spielte Frankreich eine führende Rolle beim Luftkrieg gegen Libyen und dem Sturz sowie der Ermordung von Revolutionsführer Obers Muhamma al Ghadaffi im Jahr 2011. Eine Folge davon ist es, dass das nordafrikanische Land heute als feste Basis für den IS und Al Qaida dient. Frankreich war innerhalb der EU diejenige Macht, die sich am vehementesten für Waffenlieferungen an die sogenannte syrische Opposition gegen Präsident Assad stark machte. Eine entschiedene Mitverantwortung der westlichen – imperialistischen – Nahostpolitik am Entstehen und der Ausbreitung des IS und anderer dschihadischer Terrororganisationen ist nicht von der Hand zu weisen. Auch den EU-Regierungen sollten die Erkenntnisse des Pentagon-Geheimdienstes aus dem Jahr 2012 vorgelegen haben, wonach die bewaffneten „Rebellen“ in Syrien mehrheitlich salafistischen Gruppierungen einschließlich al Qaida angehörten und die Bildung eines islamistischen Kalifats im Norden Syriens drohte. Dies sei jedoch im Interesse „unserer Bündnispartner“, der Türkei und der Golfstaaten, da so die Assad-Regierung geschwächt werde, hieß es damals aus Washington. Jetzt ist den westlichen Staaten der auf dem Boden ihrer neokolonialen Nahost-Politik im Irak, Libyen und Syrien entstandene und jahrelang gehätschelte IS über den Kopf gewachsen. Das Frankenstein-Monster hat sich als unberechenbar und unkontrollierbar erwiesen und soll wieder zur Räson gebombt werden. Da EU und NATO zugleich eine Stärkung ihrer Gegner – der syrischen Regierung, des Iran und nicht zuletzt des jetzt aktiv in den Syrien-Krieg eingreifenden Russland – befürchten, blieb das westliche Vorgehen gegen den IS seit über einem Jahr halbherzig und wenig erfolgreich.

Gleichzeitig üben Bundeskanzlerin Angela Merkel, US-Präsident Barack Obama und die anderen westlichen Staats- und Regierungschefs auf dem G20-Gipfel in Antalya den Schulterschluss mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dieser gilt als einer der Hauptunterstützer des dschihadistischen Terrorismus in Syrien. Jahrelang konnten IS, Al Qaida und andere Terrororganisationen die Türkei als sicheres Hinterland nutzen und von dort ihre Angriffe auf syrische Regierungstruppen sowie die kurdischen Selbstverwaltungskantone nutzen. Und weiterhin gibt es Hinweise auf eine aktive Unterstützung der zu Al Qaida gehörenden Al Nusra-Front in Syrien durch die Türkei. Erst letzte Woche sollen aus der Türkei Luft- und Panzerabwehrraketen an diese Terrororganisation bei Aleppo geliefert worden sein. Zudem greift Erdogan zum Kampf gegen die kurdische und linke Opposition im eigenen Land auf Dschihadisten als Truppen fürs „Grobe“ zurück. Bei den Angriffen von Spezialpolizeieinheiten auf kurdische Städte sind arabischsprachige Dschihadisten mit von der Partie und auch von den Attentäter von Suruc und Ankara führen Spuren zur türkischen Regierungspartei AKP. Zusätzlich schwächt Erdogan den Kampf gegen den IS durch die Bombardierung kurdischer Kämpfer im Nordirak und Nordsyrien.

Die Schreckensnachrichten aus Paris überlagerten eine wichtige Erfolgsmeldung: am Freitag gelang es kurdischen Milizen, die Stadt Shengal (Sindschar) im Nordirak vom IS zu befreien. Hier hatte im August 2014 der versuchte Genozid des IS an den Eziden begonnen – tausende Männer wurden ermordet, tausende Frauen und Mädchen versklavt. Die Befreiung Shengals ist bereits die zweite große Niederlage des IS nach der erfolgreichen Verteidigung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani im Januar 2015. Möglich wurde die Befreiung Shengals durch eine breite Allianz kurdischer Gruppierungen, von der PKK-Guerilla und den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava/Nordsyrien über ezidische Selbstverteidigungsgruppen bis hin zu den Peschmerga der irakisch-kurdischen Regionalregierung. Doch weiterhin wird die PKK auf der EU-Terrorliste geführt und in Deutschland als terroristische Vereinigung verfolgt, erst letzte Woche wurde erneut ein kurdischer Politiker in Deutschland verhaftet. Wer die engagiertesten und erfolgreichsten Kämpferinnen und Kämpfer gegen den IS kriminalisiert und gleichzeitig mit dem heimlichen Kalifen Erdogan paktiert, der will den IS nicht ernsthaft bekämpfen.

Kampf gegen den IS, das bedeutet:

  • Solidarität mit der nordsyrischen Autonomieregion Rojava und den gegen den IS kämpfenden Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie ihren arabischen und christlichen Verbündeten! Aufhebung des von der Türkei verhängten Embargos gegen Rojava, Schaffung eines humanitären Korridors nach Kobani und materielle Hilfe für den Wiederaufbau!
  • Solidarität mit der Allianz kurdischer Kräfte im Nordirak, die Shengal vom IS befreit haben, und Unterstützung der berechtigten Forderung der Ezidinnen und Eziden nach Selbstverwaltung und eigenen Selbstverteidigungskräften!
  • Schluss mit der Kollaboration der Bundesregierung mit den Terrorpaten Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Erdogan kann kein Partner in der Flüchtlingspolitik, sondern nur in der Abschottungspolitik sein. Schluss mit Waffenlieferungen an die Förderer des Dschihadismus!
  • Schluss mit der Kriminalisierung des kurdischen Widerstandes – Aufhebung des PKK-Verbots und Löschung der PKK von der EU-Terrorliste!
  • „Ja“ zur Wachsamkeit gegen Dschihadisten und Terrorgefahr – nein zu Grundrechtseinschränkungen und Aufrüstung der Geheimdienste und flüchtlingsfeindlicher Panikmache!
  • Solidarität mit Flüchtlingen – Rassismus und Muslimfeindlichkeit entgegentreten!