Rede im Bundestag: Es war Völkermord! Zum 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/16

Rede zu TOP 27 der 101. Sitzung des 18. Deutschen Bundestages  1. Beratung der Anträge 18/4335 (LINKE) sowie 18/4684 (CDU,CSU,SPD) und 18/4687 (Grüne)

 

 Ulla Jelpke (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter der armenischen und assyrischen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und andere Christen wurden damals ermordet. Die Armenier sprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrer nennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir verneigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drücken wir unser tief empfundenes Mitgefühl aus.

Meine Damen und Herren, Völkermord wird von den Vereinten Nationen als Handlung mit der Absicht definiert – wir haben es eben schon gehört -, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging es den Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur – so wörtlich – „Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamtheit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homogenen Nationalstaates in Anatolien und der Raub armenischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915 armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet und erschossen, dann, am 24. April, die armenische Führungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließend wurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischen Männer von der jungtürkischen Sonderorganisation massakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärsche getrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationen waren Verbannungen ins Nichts – das hatte Innenminister Talat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Armenier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räuberbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebt hatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotamischen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätzlich geplanten und durchgeführten Völkermord.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich diejenigen Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Union und SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vor den Mund genommen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn Ihrem Drängen ist es – gemeinsam mit den deutlichen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsidenten Gauck – zu verdanken, dass im Antrag der Koalition zumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Doch explizit als Völkermord benannt wird die Vernichtung der Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht. Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst unwürdig.

Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls darum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jahren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis und Eingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraussetzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstgerechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über 1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigene Geschichte sprechen. Schließlich war das deutsche Kaiserreich der engste Verbündete des Osmanischen Reiches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischen Führung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord so nicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost dies in ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zu stoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesem einen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch die verbrecherische Komplizenschaft ging weit über unterlassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehr um Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler untersagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere:

Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.

Lediglich der sozialistische Abgeordnete Karl Liebknecht protestierte damals im Reichstag gegen die Ausrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere und Diplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen die Vernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chef der osmanischen Flotte, Admiral Souchon ‑ ich zitiere ‑:

Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein.

Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Deportationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel beschießen. Deshalb fordert Die Linke heute die Bundesregierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischen Mitverantwortung des Deutschen Reichs zu bekennen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Bundestag muss ‑ genauso wie das der Präsident heute bereits gemacht hat ‑ bei den Armenierinnen und Armeniern um Verzeihung bitten.

Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Gegenwart machen; denn wer Augenzeugenberichte aus den Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenvergewaltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelle Bilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jahren der Todesgang des armenischen Volkes in der syrischen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter des sogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra-Front. Christen, deren Vorfahren als Überlebende des Genozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf der Flucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden versklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommen ungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten logistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz aus der Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sie schweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, den NATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mit Erdogan und seiner Regierung über 1915 und über die Gegenwart endlich Klartext zu reden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)