Rede im Bundestag: Roma haben kein sicheres Herkunftsland

Rede zu TOP 26 der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages, GE der Bundesregierung auf 18/1528 und Antrag der Fraktion DIE LINKE „Schutzbedarf von Roma aus den Westbalkanstaaten anerkennen“ auf 18/1616

Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden sollen. Das bedeutet, dass die Asylanträge aller Asylsuchenden aus diesen Staaten in Zukunft im Schnellverfahren abgelehnt werden,
(Christine Lambrecht (SPD): Geprüft werden, nicht abgelehnt!)
weil sie pauschal als unbegründet gelten, und dass sie innerhalb einer Woche das Land verlassen müssen.
(Rüdiger Veit (SPD): Das ist so nicht richtig!)
Faktisch werden auch jetzt schon Asylanträge von Antragstellern aus dem Weltbalkan im Eiltempo abgefertigt und nur oberflächlich geprüft. Trotzdem erhielten 2013 immerhin 60 Asylsuchende aus diesen Ländern einen humanitären Aufenthaltstitel durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und weitere 82 erkämpften sich dieses Recht vor den Verwaltungsgerichten.
Die Linke fordert ganz klar: Es muss weiterhin faire Asylverfahren für Menschen aus den Staaten im Westbalkan geben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will hier ganz deutlich sagen: Länder, in denen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen werden, dürfen nicht als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aus all diesen Staaten kommen vor allem Roma als Asylsuchende nach Deutschland. 90 Prozent der Asylsuchenden aus Serbien sind Roma. Aus Mazedonien sind es 80 Prozent und aus Bosnien-Herzegowina 65 Prozent. Es ist bekannt, dass diese Minderheiten dort am Rande der Gesellschaft leben und Opfer von rassistischen Übergriffen und Kampagnen sind. Gerade weil wir als Deutsche Roma gegenüber eine historische Verantwortung haben, meinen wir, dass diese Länder nicht einfach als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden können.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Über eine halbe Million Sinti und Roma sind während des Faschismus in ganz Europa umgekommen. Dieser Gesetzentwurf tut gerade so, als hätte es diesen Teil der Geschichte, diesen Antiziganismus, nie gegeben. Ich appelliere an Sie: Handeln und seien Sie hier nicht geschichtsvergessen!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In diesen Tagen gibt es erschreckende Meldungen aus Serbien und Bosnien-Herzegowina. Dort wurden durch eine Überschwemmungskatastrophe Häuser und ganze Siedlungen zerstört. Zehntausende Menschen sind obdachlos, und es besteht Seuchengefahr. Die Behörden versuchen, zu helfen, wo sie können; das ist keine Frage. Diese Hilfe kommt aber längst nicht bei allen an.
Insbesondere Roma sind von den Fluten betroffen; denn ihre Siedlungen befinden sich direkt an den Flussufern. Erst in dieser Woche hat der Ombudsmann für Bürgerrechte, Saša Janković, in Bosnien-Herzegowina beklagt, dass dort einer Gruppe von 30 Roma der Zugang zu Aufnahmezentren einfach verweigert wurde, weil sie Roma waren. Sie wurden stattdessen in einen Bunker verfrachtet, der durch Rattengift verseucht war ohne Toiletten, ohne sauberes Wasser und ohne Anschluss an das Abwassersystem. Ihnen wurde die Unterstützung, die andere Bürgerinnen und Bürger dort selbstverständlich erhalten haben, nicht zuteil und das einzig und allein, weil sie Roma sind. Das ist die schreckliche Realität, die auch Sie von der Koalition einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist eine von vielen Geschichten alltäglicher Diskriminierung, die Roma in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien erdulden und erleiden müssen. Ich will noch weitere Beispiele aus Serbien nennen:
45 000 Roma, Flüchtlinge aus dem Kosovo, leben dort ohne Personaldokumente und damit völlig rechtlos. Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Sozialleistungen. Man muss hier ganz deutlich sagen: Insgesamt gibt es dort 400 informelle Roma-Siedlungen. Ein Drittel davon hat keine Wasserversorgung, 70 Prozent der Haushalte sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen, und häufig gibt es auch keinen Strom. Ich glaube, ich muss hier nicht sagen, was das dort bedeutet insbesondere für Kinder und für Frauen. Laut UNICEF ist die Kindersterblichkeit bei Roma in Serbien viermal so hoch wie im Durchschnitt.
All diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie schmal der Grat zwischen Diskriminierung und lebensbedrohender Ausgrenzung ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir reden nicht einfach über Armut. Wir reden über massive Verletzungen der sozialen Menschenrechte. Nach den Asylrichtlinien der EU muss auch eine Mehrfachdiskriminierung zur Anerkennung als Flüchtling führen.
Herr Innenminister, ich sage es gerne noch einmal: Wenn diese Menschen in irgendeiner Weise von schwerwiegenden Verletzungen eines grundlegenden Menschenrechtes betroffen sind, muss auch das zum Schutz in unserem Land führen, nicht nur die enge Sicht auf die politische Verfolgung.
(Beifall bei der LINKEN)
Übrigens – auch das hat der Innenminister hier nicht erwähnt – hat auch der UNHCR in seiner Stellungnahme zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf klar gefordert, dass das europäische Recht angewendet bzw. endlich in die Praxis umgesetzt werden soll.
In der Begründung des Gesetzentwurfs findet sich zu all diesen Menschenrechtsverletzungen kein einziges Wort. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat zu Recht von einer „Bagatellisierung“ der Menschenrechtslage in den Westbalkanstaaten gesprochen. In dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die zahlreichen Berichte von Menschenrechtsgruppen, Institutionen und dem Europarat sowie der US-Menschenrechtsbericht – das soll schon etwas heißen – ignoriert. Diese Ignoranz der Bundesregierung ist meines Erachtens wirklich unerträglich.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Diese ganze Debatte vergiftet zusehends das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik. Am Mittwoch wurden zum Beispiel neue Zahlen einer Studie der Universität Leipzig zum Rassismus in der Mitte dieser Gesellschaft bekannt. Demnach haben 55,4 Prozent der Befragten ein Problem damit, wenn sich Roma und Sinti in ihrer Gegend aufhalten. 47,1 Prozent finden, Roma und Sinti sollten aus den Innenstädten verbannt werden. 55,9 Prozent unterstellen ihnen eine höhere Neigung zu Kriminalität. – All diese Werte sind im Vergleich zur Umfrage von 2011 deutlich gestiegen.
Der grassierende Antiziganismus ist auch das Ergebnis dieser unsäglichen Asylmissbrauchsdebatten, die wir seit mindestens zwei Jahren in dieser Gesellschaft führen, besonders auf der rechten Seite dieses Hauses. Das ist unerträglich.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Peter Hintze:
Frau Kollegin.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Vizepräsident Peter Hintze:
Das müssten Sie schon längst gekommen sein.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Man befeuert damit jedenfalls den Antiziganismus in dieser Gesellschaft.
Ich sage zum Schluss noch einmal: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Beenden Sie die Asylschnellverfahren, und erkennen Sie den Schutzbedarf von Roma aus den Westbalkanstaaten an! Seien Sie mit dieser Gruppe solidarisch. Ich denke, sie hat es historisch verdient.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)