Artikel: Unheilvolle Kooperation

Unter der Leitung von Oberst Muammar Al-Ghaddafi führten 1969 panarabische und sozialrevolutionäre Offiziere einen Umsturz im nord­afrikanischen Königreich und ehemaligen italienischen Kolonialgebiet Libyen herbei. 1977 wurde das Land zur sozialistischen Volksrepublik auf Grundlage des Korans proklamiert. Offiziell ist ­Libyen basisdemokratisch organisiert (auf lokaler und nationaler Ebene existiert ein System von »Volksräten«), doch liegt die faktische Macht bei »Revolutionsführer« Ghaddafi und dessen Sicherheitsdiensten. Erdöl- und Erdgasvorkommen sind die Quellen des Wohlstandes. Obwohl Libyen fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, leben dort nur 6,3 Millionen Menschen, davon 1,8 Millionen in der Hauptstadt Tripolis. Lange wurde die »Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija« vom Westen wegen ihrer Unterstützung von Guerilla- und Befreiungsbewegungen als »Schurkenstaat« bekämpft. 1986 bombardierten US-Kampfflugzeuge Tripolis und Bengasi. Nachdem Ghaddafi 1999 die Beteiligung libyscher Agenten am Anschlag auf eine US-amerikanische Boeing 747 über dem schottischen Lockerbie eingestand und 2003 den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen erklärte, wurde ein Embargo des UN-Sicherheitsrates aufgehoben. Im Gegenzug leitete Ghaddafi eine Teilprivatisierung der Wirtschaft ein und öffnete das Land für ausländisches Kapital.

Bei der Durchsetzung ihres Konzepts einer »Festung Europa« spielt das in den Kreis der »zivilisierten Nationen« zurückgekehrte autoritäre libysche Regime für die EU eine Schlüsselrolle. Zentral für die europäische Abschottungspolitik ist vor allem die Entwicklung enger Beziehungen zwischen Libyen und seiner ehemaligen Kolonialmacht Italien. Libyen stand bis 2009 in der Kritik der EU, weil es als Transitland der »illegalen« Migration nach Europa galt. Kriege, Bürgerkriege und extreme Armut sind der Antrieb für Tausende verzweifelter Menschen aus Somalia, Eritrea, dem Sudan und anderen afrikanischen Ländern, das Risiko einer Überfahrt von Libyen über das Mittelmeer auf unzureichenden kleinen Booten auf sich zu nehmen. In der EU wird ignoriert, daß diese Flüchtlingsbewegungen die Reaktion darauf sind, daß Afrika durch eine neokolonialistische Wirtschaftspolitik des Westens immer mehr verarmt und die Menschen für sich dort keine Perspektive sehen. Statt die Fluchtursachen zu beseitigen, begann insbesondere Berlusconis Italien, Tripolis zu einer Kooperation zu bewegen, die ausschließlich auf Abwehr und Abschiebung der in Europa Schutz suchenden Afrikaner gerichtet ist. Seither haben die Transitwege von Libyen nach Malta oder zur kleinen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an Bedeutung verloren. Die Flüchtlinge wurden somit gezwungen, auf neue, gefährlichere Routen auszuweichen. Ende 2009 entschied Ministerpräsident Silvio Berlusconi, daß das Auffanglager Lampedusa geschlossen werden könne, was nunmehr auch geschehen ist, da keine Flüchtlinge mehr dort ankamen.
Vorposten der Festung Europa
Seit Mai 2009 geht Tripolis gegen »Schleuser« aktiv vor. Italien und Libyen führen gemeinsame Patrouillenfahrten vor der libyschen Küste durch. Ebenfalls seit Mai 2009 führt Italien Migranten, die auf hoher See aufgegriffen werden, umgehend nach Libyen zurück. Und 2009 wurde ein bilateraler Freundschaftsvertrag zwischen Tripolis und Rom ratifiziert. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist sehr eng. Italien leistet finanzielle Hilfen, etwa für den Bau einer Küstenautobahn durch vorwiegend italienische Firmen. Berlusconi durfte Ende März 2010 auf Einladung Ghaddafis sogar als Gastredner auf der Gipfelkonferenz der Arabischen Liga sprechen. Die Flüchtlingsabwehr ist integraler Bestandteil der Kooperation beider Staaten. Von der italienischen Regierung wird all dies als »Erfolg« verkauft, obwohl die Maßnahmen zur Abschiebung von Flüchtlingen im Widerspruch zum internationalen Recht stehen.

Es existiert aber nicht nur eine besondere Beziehung Libyens zur ehemaligen Kolonialmacht Italien. Vielmehr arbeitet die EU insgesamt seit 2004 in Fragen der Flüchtlingsabwehr eng mit Tripolis zusammen. Gegen finanzielle Zusicherungen zeigte sich Libyen bereit, die Funktion eines Vorpostens der Festung Europa einzunehmen. Nicht von ungefähr brachte Exbundesinnenminister Otto Schily (SPD) bereits in der Zeit der rot-grünen Koalition die Idee von »Auffanglagern« in Nordafrika in die Diskussion.

Deutschland betreibt nicht nur seit langem die Abschottungspolitik der EU aktiv mit, sondern ist auch konkret bei der Flüchtlingsabwehr der sogenannten EU-Grenzschutzagentur Frontex beteiligt. Deutsche Helikopter helfen beispielsweise mit, Flüchtlingsboote aufzuspüren. Auf diese Weise wurde im Juni 2009 erstmals unter deutscher Beteiligung ein Flüchtlingsboot südlich von Lampedusa entdeckt, von italienischen Küstenschiffen aufgebracht und schließlich der libyschen Küstenwache übergeben. Auch durch Maltas Küstenwache wurden Flüchtlingsboote zur Rückkehr nach Tripolis gezwungen. Dies ist unter menschenrechtlichem Aspekt schon deshalb ein Skandal, weil Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat. Internationale Flüchtlingsorganisationen haben keine Möglichkeit, dort tätig zu sein. Eine Ausnahme gilt nur für die IOM (Internationale Organisation für Migration), deren Aufgabe aber nur darin besteht, freiwillig ausreisenden Migranten behilflich zu sein. Libyen kennt kein nationales Asylrecht. Die Einhaltung eines Mindestschutzstandards ist nicht gewährleistet. Daher werden Menschen ohne Papiere festgenommen und inhaftiert. Kaum jemand hat die Chance, über Resettlementprogramme nach einer Anerkennung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk doch noch in westlichen Industrienationen aufgenommen zu werden.

Flüchtlinge in Libyen sind insgesamt schutzlos, das gilt insbesondere für allein reisende Frauen und unbegleitete Minderjährige. Sie sind schweren Mißhandlungen, Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt – sowohl durch Kriminelle als auch durch Polizei und Militär. In mindestens achtzehn Haftanstalten befinden sich etwa 7000 bis 9000 Flüchtlinge. Die Zellen sind überfüllt, es fehlt an medizinischer Versorgung. Frauen sind Opfer von Vergewaltigungen. Die Flüchtlinge erhalten kaum Kontakt zu Anwälten, sondern sind der Willkür der Behörden ausgeliefert. Praktisch befinden sie sich in einer Abschiebehaft ohne zeitliche Begrenzung und können meist nur entkommen, wenn Verwandte Bestechungsgelder schicken. Die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Monika Lüke, berichtet von Flüchtlingen, die von libyschen Sicherheitskräften ohne Wasser und Nahrung in der Wüste ausgesetzt wurden.
Unklarer Status des UNHCR
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte nur durch die Kooperation mit einer libyschen Organisation (der »International Organization für Peace, Care and Relief«, IOPCR) Zugang zu den meisten Haftanstalten. Ein zwischenzeitlich geltendes Betätigungsverbot wurde wieder aufgehoben, aber noch laufen die Verhandlungen darüber, was der UNHCR tun darf und was nicht. Derzeit ist nur die Bearbeitung der aufgelaufenen Fälle möglich.

Bislang konnte die UNHCR-Vertretung in Tripolis mit 26 Mitarbeitern (davon 24 Libyer) 300 Schutzsuchende im Monat registrieren und durchschnittlich 128 Entscheidungen über die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus treffen. Zum 31. Januar 2010 befanden sich nach Angaben des UNHCR 8951 Flüchtlinge und 3689 Asylsuchende in Libyen. Eine geplante Aufstockung des Personals wird nun wohl erst einmal nicht möglich sein. Da Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hat, ist das Engagement des UNHCR ohnehin weiter von der Gunst der Behörden abhängig. Die behandeln die Flüchtlinge nach wie vor als »illegale Migranten«, die nach geltender Gesetzeslage unbegrenzt inhaftiert werden können – ohne jemals vor ein Gericht gestellt zu werden.

In den Haftanstalten gibt es Mißhandlungen. Die Flüchtlinge kommen nur durch Bestechung heraus oder werden trotz drohender Verfolgung in ihre mutmaßlichen Herkunftsländer abgeschoben. Am 27. April 2010 hat daher das Antifolterkomitee des Europarates die Zusammenarbeit Italiens mit Libyen als Verstoß gegen die Menschenrechte gebrandmarkt. Libyen sei kein sicheres Drittland. Die Praxis, Flüchtlinge auf dem offenen Meer durch die Küstenwache abzufangen, müsse daher in Frage gestellt werden. Denn den Betroffenen werde dadurch der vorgeschriebene Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt. Die Ausrede der italienischen Regierung, in den untersuchten Fällen im Jahre 2009 hätte kein einziger Flüchtling einen Asylantrag gestellt, ließ das Komitee nicht gelten. Dessen Leiter Jean-Pierre Restellini stellte dazu fest: »Wie sollen Menschen einen Asylantrag stellen, die völlig entkräftet von einem Schlauchboot getragen werden müssen, weil sie ohne Wasser und Nahrungsmittel die Fahrt über das Mittelmeer nur knapp überlebt haben?« Der UNHCR teilte im Oktober 2009 mit, daß er bei den in diesem Jahr überprüften Vorgängen 206 der 890 von Italien nach Libyen zurückgewiesenen Menschen als Flüchtlinge anerkannt habe. Dies zeigt deutlich, daß die von der EU gebilligte italienische Kooperation mit Libyen den internationalen rechtlichen Standards nicht entspricht.
Asyl als Lotteriespiel
Wenn die Bundesregierung beziehungsweise die EU an einer Änderung dieser Lage ein Interesse hätte, müßte sie aktiv Änderungen der libyschen Politik einfordern. Dazu gehört die unverzügliche Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention durch Tripolis sowie die Verabschiedung eines Asylgesetzes, das ein faires Asylverfahren sicherstellen kann. Weitere Sofortmaßnahmen müßten sein: Freilassung anerkannter und schutzsuchender Flüchtlinge; Einführung von Verfahren, mit denen die Rechtmäßigkeit von Abschiebungsandrohungen überprüft wird; die Abschaffung der Abschiebehaft oder zumindest die Festlegung einer gesetzlichen Höchstdauer; Sicherung menschenwürdiger Umstände in allen Haftanstalten; eine klare Regelung der Zulassung des UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen sowie deren ungehinderter Zugang zu Lagern und Gefängnissen; unabhängige Untersuchungen der Foltervorwürfe; Verfolgung und Bestrafung der für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen.

Von der libyschen Regierung müßte verlangt werden, von Abschiebungen nach Eritrea und Somalia sofort Abstand zu nehmen. Italien müßte endlich das Abfangen und Zurückweisen von Bootsflüchtlingen aus und nach Libyen beenden und allen Personen, seien sie auch auf See abgefangen worden, Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewähren. Deutschland müßte sich zur Aufnahme von schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Libyen entsprechend einem Aufnahmeprogramm des ­UNHCR bereiterklären.

Von der Bundesregierung und EU ist allerdings ein entschiedenes Eintreten für solche Forderungen nicht zu erwarten – dieser Schritt erforderte einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik insgesamt. Im Gegenteil, Berlin agiert sogar als aktiver Bremser in der EU. Mehrere Asylrichtlinien werden derzeit in der sogenannten zweiten Phase des gemeinsamen EU-Asylsystems überarbeitet. Die EU-Kommission hat zahlreiche Änderungen vorgeschlagen, mit denen die gemeinsamen Regelungen stärker vereinheitlicht werden sollen. Denn während verbindlich geregelt ist, welches Land für Asylsuchende zuständig ist, erinnern die erheblich voneinander abweichenden Asylanerkennungsquoten in der EU eher an ein Lotteriespiel denn an ein rechtsstaatliches, faires Verfahren. Das zuletzt im Stockholmer Programm proklamierte Ziel höherer gemeinsamer Asylstandards ist vielen EU-Mitgliedstaaten – allen voran der Bundesregierung – offensichtlich nichts mehr wert, wenn es um die praktische Umsetzung geht.
Auf Kosten der EU-Randstaaten
Die derzeitige EU-Abschottungspolitik führt im übrigen auch zu erheblichen Problemen in den Ländern mit EU-Außengrenzen. Denn eine solidarische und gerechte Aufnahme von Hilfsbedürftigen ist im EU-Konzept, das unter der Bezeichnung Dublin-II-Verordnung bekannt ist, nicht vorgesehen. Vielmehr sind Asylverfahren in demjenigen Land durchzuführen, in dem ein Flüchtling das Gebiet der EU zuerst betreten hat, also überwiegend in den Randstaaten der EU.

Durch Dublin II »entlasten« sich im Zentrum der EU liegende Länder wie Deutschland auf Kosten von Staaten wie Malta. Diese Mittelmeerinsel ist über längere Zeit hinweg von der EU im Stich gelassen worden. Seit dem Jahre 2002 sind auf Malta etwa 13000 Flüchtlinge angekommen, wovon 90 Prozent Asylanträge gestellt haben. 48 Prozent der Anträge wurden abgelehnt, nur 240 Personen haben den Asylstatus erhalten. Etwas mehr als die Hälfte der Antragsteller bekam allerdings einen humanitären Schutzstatus. Aus dieser Gruppe wurde ein kleiner Teil im Rahmen eines freiwilligen burden sharings von anderen Staaten aufgenommen, in Deutschland bisher aber nur 31 Personen. Aktuell werden gerade etwa 100 anerkannte Flüchtlinge in ein Resettlement (»Neuansiedlungs«)-Programm des ­UNHCR aufgenommen.

Von diesen 13000 Menschen, die seit 2002 auf Malta gelandet sind, befinden sich schätzungsweise noch zwischen 4000 und 5000 Personen auf der Insel. Es wird vermutet, daß etwa 6000 Menschen in Eigeninitiative Malta in Richtung Zentraleuropa verlassen haben. Aus diesem Personenkreis werden nach den Regeln von »Dublin II« etwa 500 in anderen europäischen Ländern aufgegriffene Flüchtlinge jährlich nach Malta zurückgeschoben. Damit können sich die Malteser nicht abfinden, die nach wie vor auf einen gesamteuropäischen Ansatz mit gemeinsamen Aufnahme- und Verteilungsprojekten setzen. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström kündigte am 22. Juni 2010 in Brüssel an, daß derzeit die Ergebnisse eines Pilotprojektes ausgewertet würden, durch das Malta bei der Flüchtlingsaufnahme entlastet werden sollte. Es gebe »erhebliche Unterschiede in der Asylpolitik«. Manche EU-Staaten würden sich »wegen ihrer sehr restriktiven Gesetzgebung« einer fairen Lastenteilung entziehen. Somit wird von der Kommissarin anerkannt, daß Malta zu Recht die Haltung zentraleuropäischer Staaten in der Asylpolitik kritisiert. Dies entschuldigt jedoch nicht, daß es auch auf Malta in den letzten Jahren zu schweren Rechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen gekommen ist.
Rechtlos auf Malta
Entgegen internationaler Gesetze und Rechtsstandards wurden Migranten und Asylsuchende nach Feststellungen von Amnesty International bei ihrer Ankunft auf Malta inhaftiert. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) bewertete dies als eine Ursache für den Anstieg von Rassismus und Intoleranz im Land. Ein im April 2009 veröffentlichter Bericht von ECRI monierte, daß Asylsuchende bei ihrer Ankunft auf der Insel keine ausreichende rechtliche Unterstützung und Information erhielten. Den Asylsuchenden stand keine kostenlose Rechtsberatung zur Verfügung, um einen ersten Asylantrag zu stellen. Sie konnten nur dann einen Rechtsbeistand erhalten, wenn sie selbst für die Kosten aufkamen. Alle Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus und Asylsuchende wurden automatisch inhaftiert. Ende des Jahres 2008 befanden sich etwa 2050 Migranten in geschlossenen Haftzentren. Weitere 2100 Menschen waren in offenen Einrichtungen untergebracht. Entgegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention war keine automatische richterliche Haftprüfung vorgesehen. Ein Flüchtling namens Abrachman aus Somalia äußerte sich am 12. Juni 2010 auf tagesschau.de sehr kritisch zu den Bedingungen auf Malta: »Unser Hauptproblem ist die Haft hier, eineinhalb Jahre sind einfach zu viel. Und die behandeln mich wie ein Tier. Wir haben nicht mal gutes Wasser. Schauen Sie doch mal unser Bad an. Wenn hier nachts jemand ernsthaft krank wird, hat er Pech. Wir können an die Tür klopfen, so lange wir wollen – wenn es ernst wäre, würde derjenige sicher sterben.«

Wegen der zwischen Italien und Libyen verabredeten Abschottungsmaßnahmen kam es etwa seit Oktober 2009 auch auf Malta zu einem starken Rückgang der Flüchtlingszahlen. Seither hat sich die durchschnittliche Bearbeitungsdauer von Asylanträgen von zehn auf fünf Monate reduziert. 2010 sagte die maltesische Regierung auch die Frontex-Operation ab. Dennoch sah Amnesty International Anlaß, auch im Jahresbericht 2010 deutliche Kritik zu üben. So gerieten Migranten und Asylsuchende durch Verzögerungen bei Seerettungseinsätzen in Lebensgefahr. Nach wie vor wurden sie entgegen internationalen Rechtsstandards bei der Ankunft routinemäßig in Gewahrsam genommen. Die Haftbedingungen blieben schlecht, trotz der Bemühungen der Behörden, in einigen Einrichtungen Verbesserungen vorzunehmen.

Als markantes Beispiel für Verzögerungen bei der Reaktion auf Notrufe nannte Amnesty International den Fall des türkischen Frachters »Pinar«. Dieser drohte am 16. April 2009 mit 140 Personen an Bord südlich von Sizilien zu sinken. Das Schiff wurde daran gehindert, einen maltesischen oder italienischen Hafen anzulaufen, da keines der beiden Länder die Verantwortung für die Geretteten übernehmen wollte. Die Betroffenen saßen vier Tage lang mit zu wenig Nahrung und Wasser fest. Erst am 20. April 2009 durften sie in Porto Empedocle in Italien von Bord gehen.

Schon zehn Tage später wurde ein Boot der maltesischen Küstenwache von den italienischen Behörden daran gehindert, 66 Migranten und mögliche Asylsuchende auf der italienischen Insel Lampedusa abzusetzen. Die Menschen waren von einem tunesischen Fischerboot gerettet und innerhalb der nach internationalen Übereinkommen Malta unterstehenden Seenotrettungszone auf das maltesische Schiff gebracht worden. Trotzdem weigerten sich die maltesischen Behörden anfangs, den Migranten und Asylsuchenden Hilfe zu leisten oder sie auf maltesischem Staatsgebiet von Bord gehen zu lassen, bis sie nach längeren Verhandlungen doch von Malta aufgenommen wurden. Amnesty International monierte ferner, daß gerichtliche Entscheidungen über Asylanträge und Inhaftierungen nur vor der Berufungsstelle für Migranten angefochten werden können. Diese ist jedoch nicht Teil des Justizsystems. Somit ist der internationale Standard, der eine richterliche Überprüfung jeder Inhaftierung vorsieht, nicht erfüllt.

»Home – ein sicherer Ort zum Neuanfang« lautete das diesjährige Motto des von den Vereinten Nationen vor zehn Jahren ausgerufenen Weltflüchtlingstags am 20. Juni. Doch weiterhin weigern sich die Staaten der Europäischen Union, Flüchtlingen diesen sicheren Ort zu gewähren.

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Anfang Juni nahm sie an einer Reise des Bundestagsinnenausschusses nach Malta und Libyen teil