Erklärung: Abwägendes Kauderwelsch

In der Redaktion des Spiegel löste der Entwurf für das Wahlprogramm der Linkspartei bereits Begeisterung aus, als er offiziell noch gar nicht veröffentlicht war. Mit unverhohlener Freude berichtete das Nachrichtenmagazin, daß Die Linke sich endlich von Radikalismus und Antikapitalismus verabschieden und zu »mehr Realismus« finden wolle, um neue Wählerschichten »der Mitte« zu erschließen. Als Beleg wurde auf die erkennbar weichgespülten Positionen in besagtem Entwurf verwiesen.

Wer mit den üblichen Chiffren im Politikgeschäft vertraut ist, weiß: Wenn der Spiegel von »Realismus« redet, ist »Anpassung« gemeint. Und eine Annäherung an die imaginären Wähler der »Mitte« steht für nichts anderes als für die Anbiederung ans politische Establishment, die letztlich nur den oberen Zehntausend nützt. Auch Schröders »neue Mitte«, die von Hartz IV, Agenda 2010 und Kriegszügen in alle Welt profitieren sollte, saß, wie sich herausgestellt hat, doch sehr weit oben in der Einkommens- und Vermögenshierarchie. Die SPD hat dank dieses Kurses einen Gutteil ihrer Mitglieder verloren und sich in der Wählergunst erfolgreich auf 25 Prozent hinuntergeschleust. Wer glaubt, daß Die Linke sich mit ähnlichen Avancen an die Profiteure des Profitsystems dieser Marke vielleicht von unten nähern könnte, kann eigentlich nur für verrückt erklärt werden. Zumal in einer Zeit, in der die Segnungen des Kapitalismus wieder einmal besonders spürbar sind.

Es ist richtig, bisher hat Die Linke trotz heraufziehender Weltwirtschaftskrise in den Umfragen nicht zugelegt. Sie hält sich auf über zehn Prozent, aber das hatte sie auch vor zwei Jahren schon getan. Angeblich zu radikale Forderungen der Linkspartei gehören allerdings nicht zu den Gründen für diesen Stillstand. Vielmehr ist es wohl tatsächlich so, daß die erste Reaktion auf krisenbedingte Verunsicherung hierzulande eher konservativ als rebellierend ist. Hinzu kommt, daß die Regierung sich verbal durchaus nicht mehr marktradikal gibt, sondern auf den Staat, politische Gestaltung, scheinbar sogar »Enteignungen« setzt, und damit einen Teil der Terminologie übernimmt, für die traditionell die Linke steht. Daß die milliardenschwere Bankenrettung am Ende nur einen enteignet, den Steuerzahler, spricht sich zwar allmählich herum, aber auch das nährt unmittelbar eher Wahlmüdigkeit oder gar Höhenflüge der FDP, weil viele Wähler reine Marktlösungen dann immer noch sympathischer finden als einen Staat, der ungeniert die Zocker von ihrer Verantwortung freikauft.

Als weiterer Grund für stagnierende Umfragewerte der Linkspartei wird oft auch angeführt, daß die Krise sich zwar in den Wirtschaftsdaten, aber für eine Mehrheit noch nicht im Alltagserleben niederschlägt. Der Einbruch ist für viele tatsächlich noch nicht spürbar, aber vor allem deshalb, weil für sie bereits Krise war, als die Statistiken noch einen properen Aufschwung vermeldeten. Schließlich sinken die Reallöhne in Deutschland bereits seit Jahren, und ebenso lange schon schmilzt auch Rentnern wie Arbeitslosen die Kaufkraft weg. Seit Herbst letzten Jahres hat sich deren Lebenssituation sogar eher stabilisiert, weil die Preise kaum noch steigen. Wirklich getroffen von der Krise sind bisher vor allem die Zehntausende entlassenen Leiharbeiter, die Mitarbeiter der bereits Konkurs gegangenen Firmen und jene, die direkt vor betriebsbedingter Kündigung zittern müssen, sowie die unzähligen Kurzarbeiter, die trotz staatlicher Abfederung in der Regel deutliche Einkommenseinbußen haben. Für alle anderen gibt es zumindest in der eigenen Lebenssituation keinen Grund, sich jetzt nach links zu wenden, wenn sie es nicht vor ein oder zwei Jahren schon getan haben.
Die Systemfrage stellen
Es spricht viel dafür, daß sich die Krise noch in diesem Jahr dramatisch verschärfen und brutal den Alltag von Mehrheiten verändern wird. Der Bundesrepublik ist (wird) für 2009 ein wirtschaftlicher Einbruch um mindestens sieben Prozent vorausgesagt; vergleichbares hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben. Spätestens 2010 erwarten alle seriösen Wirtschaftsinstitute in Deutschland über fünf Millionen Arbeitslose. Natürlich wird es, auch wenn die Depression voll zuschlägt, nicht so sein, daß sich soziale Angst und Verunsicherung automatisch nach links orientieren. Die letzte große Weltwirtschaftskrise hatte in Deutschland bekanntlich genau gegenteilige Folgen. Aber es besteht durchaus eine Chance, den wachsenden Unmut in eine widerständige, soziale und tendenziell antikapitalististische Richtung zu wenden und so gleichzeitig zu verhindern, daß er den braunen Sumpf erneut nach oben spült. Darin liegt eine ungeheure Verantwortung der gesamten linken Bewegung.

Ganz sicher aber wird Die Linke größere Teile der Bevölkerung nicht dadurch erreichen, daß sie den anderen Parteien ähnlicher und in ihren Forderungen verwaschener wird. Das ist das alte Problem von Original und Kopie. Die SPD hat auch keinen müden CDU-Wähler zum Wechsel motiviert, indem sie die CDU an Kapitalhörigkeit zu übertreffen suchte. Wer sich trotz des angerichteten Desasters mit den Hartz-IV-Parteien noch irgendwie identifizieren kann, der wird sie auch weiter wählen, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Es wird aber immer mehr Menschen geben, die sich vom herrschenden Politikbetrieb angewidert abwenden, weil sie das sichere Gefühl haben, daß die herrschenden Parteien jedenfalls ihre Interessen nicht vertreten. Es ist diese wachsende Gruppe, die schon heute in Umfragen angibt, daß sie den Glauben an die Demokratie verloren hat und der die diversen Farbenspiele – rot-schwarz oder grün-schwarz oder rot-grün-gelb usw. – mangels spürbarer Unterschiede ziemlich egal geworden sind.

Diese Gruppe kann Die Linke unter zwei Bedingungen gewinnen: Erstens muß sie Forderungen aufstellen, die diese Menschen nachvollziehen und bei denen sie verstehen können, daß eine Realisierung ihre Lebenssituation verbessern würde. Und zweitens müssen sie der Linkspartei aber auch glauben, daß sie wirklich für diese Forderungen kämpft und sie nicht bloß des Stimmenfangs wegen in ihre Programme schreibt.

Beide Bedingungen hängen zusammen. Mit weichgespülten, dem Mainstream eingepaßten Forderungen keine Glaubwürdigkeit. Aber auch schön klingende soziale Slogans allein reichen nicht, denn die schreiben sich inzwischen auch andere auf die Fahnen. Vielmehr sollte Die Linke in der aktuellen Auseinandersetzung die Partei sein, die offen die Systemfrage – also den Kapitalismus in Frage – stellt. Gerade das ist ein Gebot des Realismus. Denn antikapitalistische Forderungen sind in der gegenwärtigen Situation einfach realistischer als die Träumerei, durch ein bißchen mehr Regulierung den Kapitalismus wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen (so er auf diesem Pfad jemals war). Die aktuelle Krise ist eine Systemkrise, und sie zeigt sehr deutlich, wozu Kapitalismus führt: zu einer kompletten Fehlsteuerung der Wirtschaft, zu einer irrsinnigen Einkommens- und Vermögenskonzentration, damit zu Finanzblasen und riesigen Ungleichgewichten, und im Ergebnis zu einer gigantischen Zerstörung von Reichtum, Wohlstand und Werten, von Produktion und Produktivität. Darauf zu verweisen, mag dem Opel-Arbeiter in seiner Lebenssituation noch nicht viel helfen, aber es zeigt die Richtung auf, in die Veränderung gehen muß, wenn das Desaster tatsächlich überwunden werden soll. Es geht um eine Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums und um eine radikale Umverteilung der Einkommen und Vermögen von oben nach unten. Wer den Leuten einredet, es gäbe eine kleinere Lösung, macht ihnen etwas vor. Und das spüren sie.
Krise serviert Argumente
Daß ohne Eingriffe ins kapitalistische Eigentum die grenzenlose Renditefixierung nicht überwindbar ist, ist eine Einsicht, die sich ihren Weg ins Alltagsbewußtsein längst bahnt. Die VW-Arbeiter, die für den Erhalt des VW-Gesetzes kämpfen, wissen sehr gut, warum sie lieber einen stimmrechtsfähigen Staat als nur Porsche auf der Arbeitgeberbank haben wollen. Für die Opel-Beschäftigten ist Verstaatlichung eine Hoffnung. Sicher, öffentliches Eigentum ist durch den Mißbrauch, der damit in den letzten Jahrzehnten auch betrieben wurde, nicht ungebrochen populär. Aber sein Ansehen ist angesichts des ungleich gemeingefährlicheren Gebrauchs von kapitalistischem Eigentum in den letzten Jahren ständig gestiegen. Die Verstaatlichung von Energiekonzernen und eine staatliche Bahn unterstützen inzwischen Mehrheiten. Mehrheitlich befürwortet wird auch, daß Einrichtungen der Daseinsvorsorge – Wasser, Nahverkehr, Wohnen, Gesundheit, Bildung – in öffentliche Hand gehören. Auch die Forderung nach Verstaatlichung des Bankensystems ist angesichts des Versenke-Billionen-Spiels, das die privaten Institute gespielt haben und das nun die Allgemeinheit ausbaden muß, recht verbreitet. Eindeutig stehen die Sparkassen heute höher im Kurs als die Deutsche Bank. Auch daß bei Rettungsaktionen Steuergeld nur im Austausch gegen öffentliche Eigentumsrechte fließen darf, unterstützen viele.

Zudem sollte Die Linke natürlich nicht nur Forderungen formulieren, die in diesem Land ohnehin schon mindestens 50 Prozent der Leute teilen. Wenn es 20 Prozent sind (so viele beispielsweise unterstützen nach einer Stern-Umfrage Staatseigentum an Pharma- und Chemiekonzernen), und wir die tatsächlich erreichen, wäre das ja auch nicht schlecht. Schließlich geht es natürlich ebenso darum, mit eigenen Positionen und deren Begründung die öffentliche Meinung mitzugestalten. Eine Linkspartei, die das aufgibt, hätte sich aufgegeben. Öffentliches statt privatkapitalistisches Eigentum zu verteidigen und die Chancen, die es, sinnvoll gestaltet, eröffnet – tatsächliche Mitsprache von Beschäftigten und Gesellschaft, andere Prioritäten des Wirtschaftens – zu popularisieren, sollte jedenfalls eine der wichtigsten Aufgaben der Linkspartei sein. Und die Krise serviert uns die Argumente, die wir brauchen, geradezu auf dem silbernen Tablett.

Wenn wir diese trotzdem nicht aufgreifen, liegt der Verdacht nahe, daß das kein Versehen ist. Und damit sind wir bei der zweiten Bedingung für einen wachsenden Rückhalt der Linkspartei: der Glaubwürdigkeit. Die Menschen haben einfach zu oft erlebt, daß ihnen Oppositionsparteien das Blaue vom Himmel herunterlügen – in Wahlkampfzeiten tun das, siehe SPD, sogar Regierungsparteien –, daß die Formulierung solcher Forderungen aber mitnichten bedeutet, sich nach der Wahl dafür ernsthaft einzusetzen. Wer annimmt, Die Linke sei eine Partei wie alle anderen, der erwartet von ihr auch das gleiche wie von allen anderen: also nicht viel. Daß derart viele enttäuschte SPD-Wähler bereits in der Vergangenheit lieber zuhause blieben, statt ihre Stimme der Linkspartei zu geben, hatte ganz sicher auch diesen Grund.
Antikrisenprogramm unverbindlich
Das bedeutet aber: Die Partei Die Linke muß einen Wahlkampf und eine Politik betreiben, die aus den üblichen Mustern im bürgerlichen Politgerangel herausfällt. Das schließt ein, sich bis hin zur Sprache von den anderen Parteien zu unterscheiden, soziale Verbrechen auch »soziale Verbrechen« und Ganoven »Ganoven« zu nennen, statt in den üblichen staatstragenden Politsprech über »Fehlentwicklungen« und »Löcher im sozialen Netz« einzufallen. Einige führende Politiker der Linkspartei beherrschen das erstere und haben deshalb viel Resonanz. Der Wahlprogramm­entwurf (im folgenden WPE) hingegen könnte sprachlich ohne Not auch im Willy-Brandt- oder gar im Konrad-Adenauer-Haus geschrieben worden sein. Das Copyright an dem großartigen Satz im WPE: »In den kommenden vier Jahren wird es darum gehen, unser Land gut aus der weltwirtschaftlichen Krise herauszuführen«, könnte uns Frau Merkel ernsthaft streitig machen.

Alles, was Die Linke dabei unterstützt, ihr widerständiges, aufrührerisches, systemoppositionelles Profil zu verstärken, hilft. Alles, was an unserer Glaubwürdigkeit nagt, ist tödlich. Daher sollte Die Linke in ihrer Politik und ihren Wahlkämpfen auch viel stärker auf phantasievolle spektakuläre Aktionen setzen statt nur auf Infostand und Wahlplakat. Die Aktion, an Frankfurter Banktürmen ein Plakat mit der Aufschrift »Wenn die Welt eine Bank wäre, hättet ihr sie gerettet« zu befestigen, hätte von der Linkspartei sein sollen. Ähnliche Ideen brauchen wir.

Es geht bei politischen Sympathien und Wahlverhalten immer auch um ein Bauchgefühl: Wenn dieses Bauchgefühl dem Wähler signalisiert, daß auch Die Linke letztlich im eingefahrenen Politikbetrieb nur mitmischen will, statt ihn aufzumischen, daß ihr Anerkennung durch die »da oben« wichtiger ist als durch die »kleinen Leute«, dann haben wir verloren. Genau deshalb sind die Medien von Spiegel bis ZDF so erfreut über alles, was ihnen die Möglichkeit gibt, dieses Bauchgefühl einer anpassungswilligen und perspektivisch die Sauereien kapitalistischer Machtpolitik brav mittragenden Linkspartei zu nähren. Und neben dem Dauerbrenner – der Politik im Berliner Senat – bot ihnen der WPE dazu eine willkommene Gelegenheit.

Es gibt ein Dokument, in dem antikapitalistische Systemkritik sehr gut zu tagespolitischen Forderungen konkretisiert und mit solchen verbunden wurde: Das ist das Antikrisenprogramm der Linkspartei, das der Parteivorstand auf seiner März-Sitzung beschlossen hat. Eigentlich hätte man annehmen sollen, daß dieser Beschluß auch für die Redaktionsgruppe, die mit der Erarbeitung des WPE betraut war, bindend sein sollte. War er aber nicht.
Wabernde Unverbindlichkeit
Und zwar nicht nur in der offensichtlichen und hochpeinlichen Frage, daß der Parteivorstand beschlossen hat, eine Erhöhung des ALG-II-Regelsatzes auf 500 Euro zu fordern und einen Mindestlohn von zehn Euro, in dem WPE aber zunächst die alten Positionen von 435 Euro und acht Euro wieder auftauchten. Das ist zwar inzwischen korrigiert worden. Aber der hier unterlaufene »Fehler« ist signifikant für den gesamten Entwurf. Er ist auch deshalb so extrem lang geraten, weil wabernde Unverbindlichkeit, die alles irgendwie anspricht, sich aber auf nichts festlegt, eben mehr Platz braucht als konkrete Positionen. Das Antikrisenprogramm kommt mit vier Seiten aus, um die wirtschaftspolitischen Forderungen der Linkspartei zusammenzufassen. Eingerechnet, daß ein Wahlprogramm natürlich auch außen- und innenpolitische Positionen enthalten muß, hätte man bei ähnlichem Konkretionsgrad auf etwa zehn Seiten kommen können.

Statt dessen füllt der WPE 58 endlose Seiten. Auf denen steht natürlich auch sehr viel Richtiges. Aber dieses Richtige ist eingebettet in ein Kauderwelsch, das relativiert und abwägt, verwässert und weichspült. Bezeichnend für das gesamte Verfahren ist das Kapitel zur Außenpolitik. Zwar wurde auf Antrag aus dem PV der Satz aufgenommen: »Die Linke lehnt (…) alle Kriegseinsätze der Bundeswehr, auch mit UN-Mandat, ab.« Aber dieser Satz steht neben Aussagen wie der, »daß Militärbündnisse wie die NATO sich der UNO strikt unterordnen« sollen, was ja dann doch wieder impliziert, daß die UNO auch militärisch aktiv wird. Auch findet sich die Ablehnung sämtlicher Militäreinsätze in der Zusammenfassung des Kapitels ausdrücklich nicht wieder, wohl aber die Position: »Nur eine machtvolle demokratisch reformierte UNO kann wirksam die notwendige globale Verantwortung übernehmen.« Den kann dann jeder interpretieren, wie er mag. Auch soll »die Auflösung von Militärbündnissen« zwar »Ziel der Außenpolitik« sein – irgendwann, wenn der Kapitalismus gut, schön und friedlich geworden ist. Aber »solange die ­NATO noch existiert«, soll die deutsche Außenpolitik bloß »darauf hinwirken, daß sich die NATO von einem Interventionsbündnis weg entwickelt«. Nun ja, daß er kein »Interventionsbündnis« möchte, dürfte auch Herr Steinmeier dem Begriff nach unterschreiben. Wer das ganze Hin und Her in diesem Kapitel gelesen hat, bei dem kann eigentlich nur das dumpfe Gefühl hängenbleiben, daß da eine Partei sich um konkrete Positionen drücken will.

Ähnlich diffus sind auch die wirtschaftlichen Passagen. Einerseits werden Privatisierungen abgelehnt, andererseits findet sich plumpe Polemik gegen Staatseigentum, selbst bei der Bahn. Es paßt hinten und vorn nicht zusammen, und der Effekt ist immer: Relativieren von Positionen. Aus der »Millionärssteuer« im Antikrisenprogramm wird eine »Millionärsabgabe«, was eben bedeutet, daß sie nur zeitweilig, eventuell sogar nur einmal erhoben werden soll. Die Forderung nach Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen wird dahingehend verwässert, daß die betreffenden Unternehmen Tariflöhne oder gesetzliche Mindestlöhne zahlen sollen. Als ob letzteres nicht, wenn es denn gesetzliche Mindestlöhne gibt, für alle Firmen gilt. Anstelle der Position im Antikrisenprogramm, die Arbeitszeit auf 35, perspektivisch 30 Stunden abzusenken, enthält der WPE die revolutionäre Forderung, »die Höchstarbeitszeit auf regelmäßig 40 statt 48, in Ausnahmefällen auf 48 statt 60 Stunden« zu senken. Statt den politischen Generalstreik als wichtiges Kampfmittel einzufordern und damit natürlich auch das Ende seiner Kriminalisierung, bittet der WPE: »Der politische Streik bis hin zum Generalstreik muß erlaubt werden.« Es kommen einem die Tränen. Die gesetzliche Rente soll zwar wieder zur »tragenden Säule der Alterssicherung« werden. Aber die Forderung nach einem sofortigen Stop der staatlichen Förderung privater Vorsorge wurde »vergessen«. Bei der Einkommenssteuer wird bei 50 Prozent Schluß gemacht, obwohl der Parteivorstand im Herbst in seinem Steuerkonzept ausdrücklich gefordert hatte, den Steuersatz für sehr hohe Einkommen weiter progressiv steigen zu lassen.
Systemkritik aus CDU-Programm
Es versteht sich, daß im WPE natürlich auch keine Silbe Systemkritik zu finden ist. Der radikalste antikapitalistische Satz im ganzen Entwurf ist: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Die Kühnheit dieser Formulierung wagt man, denn es handelt sich um ein Zitat – aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947. Jenseits dessen ist vom Systemversagen des Kapitalismus keine Rede mehr. Den lahmen Satz, der »gegenwärtige Kapitalismus« sei »sozial ungerecht«, der so auch schon in den Siebzigern hätte formuliert werden können und den heute von Steinbrück bis Sommer alle Welt unterschreiben kann, wird selbst der scheueste Zeitgenosse nicht als Systemkritik werten.

Daß das kein Versehen ist, sondern bewußte Strategie, wird an der Präambel deutlich. Gegen die ursprüngliche Präambel der Redaktionsgruppe hatte ein Drittel der Parteivorstandsmitglieder einen Gegenentwurf eingereicht, der sich in Diktion und Argumentation stark an dem erwähnten Antikrisenprogramm orientierte. Von diesem Gegenentwurf wurden einige Versatzstücke aufgenommen, jede Schärfe und erst recht jede Systemkritik aber gezielt hinaus redigiert. So ist beispielsweise aus dem Satz: »Wer die aktuelle Krise bekämpfen will, muß einerseits über Sofortmaßnahmen die notwendige Reorganisation der Ökonomie und Finanzsphäre in Gang setzen und zugleich Schritte einleiten, die das bestehende kapitalistische Wirtschaftsmodell schrittweise überwinden«, im WPE folgender geworden: »Wer die aktuelle Krise bekämpfen will, muß mit Sofortmaßnahmen das Wirtschaftsleben wieder in Gang setzen und zugleich die bisherigen Regeln des Wirtschaftens ändern.« Den Kapitalismus überwinden oder bestimmte bisherige »Regeln des Wirtschaftens« ändern, sind denn doch zwei sehr verschiedene Dinge. Oder aus: »Wir kämpfen für eine andere Politik und eine andere wirtschaftliche Ordnung. Gerade jetzt!« wurde im WPE: »Wir werben für eine andere Politik, für einen Politikwechsel. Gerade jetzt!«

Es versteht sich, daß auch Verweise auf die Eigentumsfrage in der Präambel der Parteivorstandsmitglieder die Redaktionsgruppe nicht überlebt haben. Die – übrigens auch im Antikrisenprogramm enthaltene – Position, daß »jeder Euro Steuergeld, der zugunsten eines privaten Unternehmens fließt, zu öffentlichen Eigentumsrechten oder kollektiven Belegschaftsbeteiligungen in gleicher Höhe führen [muß]. Verstaatlichungen dürfen kein Tabu sein« wurde verwässert zu der Forderung, daß es »staatliche Hilfen nur im Tausch mit einem Ausbau von Mit­entscheidungsrechten geben« dürfe. Dem kann vermutlich sogar Frau Schaeffler zustimmen. Später schwingt sich der WPE zwar dann doch zu der Forderung auf, daß staatliche Zuschüsse »an Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten nur in Form der Belegschaftsbeteiligung« gewährt werden sollen. Aber was ist mit Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten? Und wieso – anders als im Antikrisenprogramm – allein Belegschaftsbeteiligung und nicht öffentliche Eigentumsrechte? Auch bei dem geplanten Zukunftsfonds von 100 Milliarden, der den Unternehmen »bei der Umstellung der Produktion auf energie- und rohstoffeffiziente Verfahren und Qualitätsprodukte« helfen soll, wird die im Antikrisenprogramm ausdrücklich mitformulierte Bedingung, daß das Geld allein in Form von Staatsbeteiligungen gewährt werden soll, mal eben weggelassen. Und so lasch geht es weiter, den ganzen Entwurf hindurch.

Das gleiche Strickmuster banaler Allgemeinplätze und schwammiger Formulierungen findet sich im »Rechtsstaat und Sozialstaat – Alternativen zum Sicherheitsstaat« überschriebenen innenpolitischen Teil des WPE. Das weniger vernebelnde Wort vom »Überwachungsstaat« taucht an keiner Stelle zur Beschreibung des von der Bundesregierung forcierten Abbaus von Bürgerrechten. So fehlt jeder Zusammenhang zwischen Schäubles Frontalangriff auf die Grundrechte mit der drohenden Niederhaltung von in Folge der Wirtschaftskrise zu erwartenden sozialen Protestbewegungen. Vielmehr geht das WPE gutwillig davon aus, daß Schäubles Maßnahmen lediglich falsche Antworten auf auch von der Linkspartei erkannte Probleme sind. So beginnt der Abschnitt über den Schutz der Bürgerrechte mit der so auch von Schäuble bei jeder Gelegenheit geäußerten Feststellung »Terrorismus und Gewaltkriminalität sind eine ernste Bedrohung für das friedliche Zusammenleben«. Der von der Bundesregierung als Knüppel beim Abbau von Bürgerrechten geschwungene Terrorismusbegriff wird nicht weiter hinterfragt.

Während im einleitenden Analyseteil die Trennung von geheimdienstlicher und polizeilicher Tätigkeit zur »unaufgebbare[n] Grundregel für einen demokratischen Staatsaufbau« erklärt wird, findet sich im Forderungskatalog nur die unbestimmte Forderung, »Polizei und Geheimdienste wieder schärfer voneinander zu trennen«, ohne auf das grundgesetzliche Trennungsgebot Bezug zu nehmen. Die Forderung »Die Linke verfolgt langfristig das Ziel der Überwindung der Geheimdienste, insbesondere des Verfassungsschutzes« klingt nach sanftem Entschlafen der Dienste. Unsere Forderung muß aber ihre Auflösung sein – und das nicht erst langfristig. Durch die besondere Hervorhebung des Verfassungsschutzes wird der BND aus der Schußlinie genommen – trotz seiner Verwicklung in die Verschleppungen in CIA-Foltergefängnisse und der Unterstützung für den US-Krieg im Irak. Hier wollen sich die außenpolitischen Realos der Linkspartei offenbar eine Hintertür offenhalten.
Signal an Koalitionspartner
Das alles kann gar nicht anders verstanden werden, denn als verschämtes Signal an potentielle Koalitionspartner: Seht, wir poltern zwar manchmal ein bißchen herum, aber wir meinen das gar nicht so. Sollten sich wider Erwarten doch Koalitionsoptionen ergeben, haben wir vorgebaut. Mit diesem Wahlprogramm können wir jede Art von Politik machen. Das Dumme daran ist nur: Nicht allein die SPD, auch der Wähler könnte das merken. Dafür muß er das endlose Programm gar nicht lesen. Er hat genügend Medien, die ihm Interpretationshilfe leisten. Und für die Vergeßlichen unter uns: Mit genau der gleichen Strategie hat sich vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal eine linke Partei unter die Fünf-Prozent-Hürde versenkt. Und auch wenn das der Linkspartei vorerst sicher nicht droht: Man sollte alte Fehler wirklich nicht immer von neuem begehen, selbst dann nicht, wenn der damalige Wahlkampfleiter auch der heutige ist.

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner
Sahra Wagenknecht, MdEP; Ulla Jelpke, MdB; Tobias Pflüger, MdEP; Inge Höger, MdB; Sabine Lösing, Niedersachsen; Franziska Steltenkamp-Wöckel, Niedersachsen; Thies Gleiss, Mitglied Parteivorstand; Gerhard Bartels, Mecklenburg-Vorpommern; Barbara Borchardt, Mecklenburg-Vorpommern; Klemens Alff, Bremen; Lorenz Gösta Beutin, Schleswig-Holstein; Asja Huberty, Schleswig-Holstein; Andrej Hunko, Nordrhein-Westfalen; Sevim Dagdelen, MdB; Jürgen Aust, Nordrhein-Westfalen