Artikel: Nationalistisches Dilemma

Die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland haben sich für den »Westen« entschieden – sie sind der NATO und der Europäischen Union (EU) beigetreten. Das gesellschaftliche Klima ist in ihnen gleichermaßen von Nationalismus, Antikommunismus und Russenhaß geprägt. Das ist ein erstes Fazit der Autorin, die Ende September, Anfang Oktober an einer Delegationsreise des Innenausschusses des Bundestags nach Vilnius, Riga und Tallinn teilgenommen hat.
Ein alle gesellschaftlichen Schichten erfassendes Parteiensystem – wie in parlamentarischen Demokratien üblich – hat sich in keinem dieser Staaten bisher herausgebildet. Die jeweiligen Regierungen zeichnen sich durch einen starken Rechtsdrall aus, während das linke Spektrum und soziale oder ökologische Bewegungen ein Schattendasein führen. Gemeinsam ist ihnen auch, daß sie sich in ihrer Außenpolitik durch Willfährigkeit gegenüber den USA auszeichnen –deutlich ablesbar am sofortigen und kritiklosen militärischen Mitwirken an von den USA geführten Kriegen im Irak und in Afghanistan.
Die Einführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise hat wie überall, wo sie herrscht, auch im Baltikum zu krassen sozialen Gegensätzen geführt. Ein nennenswerter Mittelstand konnte zwischen der von Geld strotzenden Oberschicht und der in Armut lebenden Mehrheit bisher nicht entstehen. (In Litauen etwa sollen 80 der 140 Abgeordneten Millionäre sein.) Der vermeintlichen Hoffnung, mit dem Beitritt zur EU den Wohlstand abonniert zu haben, folgt allmählich die Ernüchterung: Der breiten Masse der Bevölkerung geht es schlechter als zuvor.

Geschichte der letzten 70 Jahre

Die Mißerfolge der Westbindung versuchen die Regierungen durch eine betont antirussische Politik zu kaschieren – zugleich blenden sie die baltische Geschichte während der Nazizeit aus. Man kann geradezu von einem Geschichtsrevisionismus sprechen, der allenthalben im öffentlichen Leben, etwa in der Ausgestaltung von Museen und Ausstellungen, sichtbar wird. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der im gesamten Baltikum ausgeprägten Kollaboration mit der faschistischen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg fehlt, und die Jahrzehnte der Zugehörigkeit zur UdSSR werden fast ausschließlich negativ dargestellt.
Dabei verdanken Litauen, Lettland und Estland ihre Existenz als selbständige Staaten dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk aus dem Jahr 1918 zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Sowjetrußland. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 1939, gab es im geheimen Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag eine Aufteilung der Interessensphären, wonach Litauen, Lettland und Estland von den Nazis verschont bleiben sollten. Im August 1940 entschieden sich die Bürger der drei baltischen Staaten in Volksabstimmungen für den Anschluß an die UdSSR als sozialistische Sowjetrepubliken.
Die Nazis machten mit ihrer Doktrin der »Gewinnung von Lebensraum im Osten« jedoch vor den baltischen Sowjetrepubliken nicht halt und besetzten diese im Sommer 1941. Die jüdische Bevölkerung wurde von den Deutschen nahezu vollständig ermordet. 1944/1945 wurde das Baltikum durch die Rote Armee befreit. Litauen, Lettland und Estland blieben weiterhin Sowjetrepubliken, allerdings bildeten sich in allen drei Staaten in den achtziger Jahren nationalistische Bewegungen. Nach der Auflösung der UdSSR durch die von Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, ins Leben gerufene Perestroika erklärten die baltischen Nationen ihre Unabhängigkeit, die am 6. September 1991 durch Rußlands Präsident Boris Jelzin anerkannt wurde. Im Lauf der nächsten Jahre folgten die Mitgliedschaften im Europarat (1993), in der NATO (2.4.2004) und in der EU (1.5.2004). Diese Ereignisse zeigen, wie eng die Geschichte der drei baltischen Staaten zusammenhängt. Deshalb sind die folgenden, im Text genannten Beispiele symptomatisch für die gesamte Region.
Bei Gesprächen mit Vertretern der Regierungen und Parlamente während der Delegationsreise fiel auf, daß die historische Aufarbeitung der Geschichte der letzten 70 Jahre einseitig auf den Stalinismus ausgerichtet ist. Auf einer Gedenktafel im Stadtzentrum von Riga z. B. wird an die »Okkupation von 1940 bis 1991« erinnert. Es erfolgt also die auch von den Konservativen in der BRD immer wieder benutzte ahistorische Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus, indem der Beitritt Lettlands zur Sowjetunion und der verbrecherische Überfall Hitlers auf das Baltikum gleichermaßen als »Okkupation« bezeichnet werden. Die Vernichtung der Juden im Baltikum wird – wie sich auch bei Museumsbesuchen zeigte – wenig thematisiert. Auch nicht die Kooperation mit dem deutschen Reichskommissariat zwischen 1941 und 1944.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in Lettland 142000 Juden, das entsprach sieben Prozent der Bevölkerung. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, 1939, waren es noch 96000. Nur etwa 15000 Juden konnten vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen. Alle anderen wurden von den deutschen Faschisten ermordet. In der folgenden Sowjetzeit, also ab 1944/45, wanderten viele Juden aus der Ukraine, Belarus und Rußland ins Baltikum ein, so daß die Zahl der jüdischen Bevölkerung Lettlands wieder auf 37000 anstieg. Nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes kam es zu einer größeren Abwanderung nach Israel, so daß jetzt nur noch etwa 10000 Juden im Land verblieben sind, von denen die meisten in Riga leben.
Weder in Riga noch in der litauischen Hauptstadt Vilnius sprach einer der einheimischen Parlamentarier die Nazivergangenheit an. Statt dessen wurde die Bundestagsdelegation immer wieder aufgefordert, die EU müsse bei der Verfolgung stalinistischer Verbrechen behilflich sein und diese wie die Naziuntaten aufklären. Auch wenn die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erst einmal eine interne Aufgabe eines jeden Staates ist – es bleibt dennoch bedenklich, wie nationalistische Kräfte an einem revisionistischen Geschichtsbild arbeiten. Die jetzt im Baltikum regierenden Politiker scheinen jedenfalls auf dem rechten Auge blind zu sein, wenn es um Vergangenheitsbewältigung geht.

»Nichtbürger« im eigenen Land

Die Abwendung von der UdSSR führte in Lettland und Estland zu einer Gesetzgebung, die man nur als schwere Menschenrechtsverletzung bezeichnen kann. Mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz vom 21. Juni 1993 wurde in Lettland eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geschaffen. Russen und Ukrainer, obwohl seit Jahrzehnten im Land lebend, erhielten nicht die Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Sie wurden gewissermaßen zu »Ausländern im Inland« erklärt. Der juristische Terminus für dieses Drittel der Gesellschaft lautet »Nichtbürger«.
Sie haben zwar z. B. in Lettland ein Aufenthaltsrecht und erhalten einen eigenen Reisepaß, haben aber weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern, und damit zu vielen Berufen, ist ihnen verwehrt. 60 Prozent des Schulunterrichts in den Oberklassen findet in lettischer Sprache statt. Wer die lettische Staatsangehörigkeit erwerben will, muß eine Sprach- und Geschichtsprüfung absolvieren –und dies im eigenen Land! Wegen dieser als unzumutbar empfundenen und für ältere Menschen wegen der Sprachtests unüberwindbaren Hürden stellen viele »Nichtbürger« keinen Antrag auf »Naturalisierung«, weshalb etwa 415000 Menschen quasi staatenlos sind. Die Konstruktion der Rechtsfigur des »Nichtbürgers« führt zu der grotesken Folge, daß zwar in Lettland lebende EU-Bürger das Kommunalwahlrecht haben, die russischstämmigen Einwohner dagegen nicht. Eine ähnlich rechtlose Situation besteht für letztere in Estland: Von 1,2 Millionen Einwohnern sind zur Zeit 120000 »Nichtbürger«.
Trotz dieser Russenfeindlichkeit funktioniert das Zusammenleben der Menschen im praktischen Alltag nach Meinung ausländischer Beobachter bisweilen besser als von der Politik beabsichtigt. Lettisch-russische »Mischehen« sind keine Seltenheit. Jede fünfte Eheschließung in Lettland setzt sich über diese künstlichen Trennlinien hinweg. Dies gilt allerdings nicht für Estland, wo die Feindseligkeiten gegenüber Russen deutlich spürbar sind.
Die nationalistische Politik führte in Estland zu einem Eklat, als am 27. April dieses Jahres ein sowjetisches Ehrenmal aus dem Zentrum der Hauptstadt entfernt wurde. Seit 1947 stand der Bronzesoldat mitten in der Hauptstadt Tallinn. Premierminister Andrus Ansip von der Reformpartei nahm mit der Verlegung des Denkmals kurz vor den Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges bewußt einen Konflikt mit Moskau in Kauf: Immerhin sind 30 Prozent der 1,2 Millionen Einwohner Russen. Sie empfanden die Ausrede der Regierung, der neue Standort für das Denkmal auf einem Militärfriedhof sei sogar besser, zu recht als Provokation. In der baulich wunderbaren, mittelalterlichen Altstadt von Tallinn kam es zu schweren Ausschreitungen mit einem Toten und Hunderten Verletzten; Rußland war schwer verstimmt. Dieses Ereignis hat das Land dauerhaft verändert. Unübersehbar ist die Kluft in der Bevölkerung, deren russischer Teil das Jahr 1944 als Jahr der Befreiung vom Faschismus begreift, während viele Esten darin den Beginn der sowjetischen Besatzung sehen.
Nicht nur mit der Anerkennung der russischen Bevölkerung als Teil der Gesellschaft tun sich die Mitte-Rechts-Regierungen in den baltischen Staaten schwer. Sogar die Rückkehr von Emigranten wird skeptisch gesehen, obwohl diese bereit wären, mit Investitionen die Wirtschaft anzukurbeln. In Litauen gibt es eine heftige Debatte darüber, ob die doppelte Staatsangehörigkeit zugelassen werden soll. Bisher bekommen Remigranten nur ein Aufenthaltsrecht, nicht aber die (bei ihrer Emigration vor Jahren verlorene) litauische Staatsangehörigkeit. Das ist für die Betroffenen zu wenig. Zugleich existiert bei einem Teil der litauischen Bevölkerung ein diffuses Unbehagen, Menschen mit zwei Staatsangehörigkeiten hätten einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber anderen. Für die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit wäre eine Verfassungsänderung notwendig, die nur durch Volksentscheid beschlossen werden könnte. Ob es dafür eine Mehrheit gibt, ist angesichts irrationaler Vorbehalte fraglich.
Parallelen zur innenpolitischen Debatte in Deutschland zeigen sich bei der Regelung des Familiennachzugs für Ausländer. In der BRD sind von CDU/CSU und SPD durch die jüngste »Reform« des Aufenthaltsgesetzes drastische Restriktionen durchgesetzt worden. Litauen gestattet den Familiennachzug erst nach zweijährigem Aufenthalt. Wie bei der Diskussion um die doppelte Staatsangehörigkeit regt sich gegen diese inhumane Frist Widerstand aus der Wirtschaft. Große Firmen sind auch in Litauen auf Arbeitskräfte aus anderen Ländern angewiesen und wollen daher, daß der Familiennachzug erleichtert wird.

Übereifrige EU-Mitglieder

Trotz hoher Wachstumszahlen gibt es große wirtschaftliche Probleme. Die Inflationsraten sind so hoch, daß keines der baltischen Länder die zum 1. Januar 2007 angestrebte Aufnahme in die Euro-Zone geschafft hat. Mittlerweile beweisen die Meinungsumfragen, daß in der Bevölkerung die Skepsis gegen die EU wächst. Einen Beitrag dazu leistet der Brain drain, weil der reiche Westen hochqualifizierte Facharbeiter abwirbt und viele baltische Studenten nach dem Studium in London, Paris oder Berlin nicht mehr zurückkehren.
Die Politik, Menschen die Einwanderung nur zu gestatten, solange sie wirtschaftlich verwertbar sind, statt die Zuwanderungspolitik an humanitären Kriterien auszurichten, zeigt ihre Schattenseiten. Baufirmen aller baltischen Staaten können oft keine Aufträge annehmen, weil Facharbeiter der höheren Löhne wegen nach England und Irland gegangen sind. Bei einem solchen Beschäftigtenmangel sind diese Unternehmen allerdings auch wieder froh, wenn Arbeitskräfte aus der Ukraine, aus Belarus und Rußland bereit sind, auszuhelfen. Asylsuchende gibt es in Litauen kaum, weil das Baltikum für die Flüchtlinge geographisch abseits und zu weit im Norden liegt. Allenfalls der Tschetschenien-Konflikt führt dazu, daß von dort 300 bis 400 Asylsuchende pro Jahr nach Litauen kommen. Die gesamte Zuwanderung – aus humanitären oder arbeitsmarktpolitischen Gründen – beschränkt sich auf 5000 Personen jährlich. Flüchtlingspolitik ist daher kein zentrales Thema. Aber die Auswirkungen der verfehlten EU-Migrationspolitik auf den Arbeitsmarkt bekommen die baltischen Staaten voll zu spüren.
Obwohl die »terroristische Bedrohung«, die in der BRD als Begründung für laufende Einschnitte in die Bürgerrechte herhalten muß, im Baltikum keine Rolle spielt, wurde den deutschen Parlamentariern in Vilnius klargemacht, daß Litauen bereit sei, alle Forderungen der EU in bezug auf Geseztesverschärfungen zu erfüllen. Ein Problembewußtsein dafür, daß Eingriffe in Grundrechte möglichst gering zu halten sind, scheint sich noch nicht ausgeprägt zu haben. So sieht man es beispielsweise in Litauen als richtig an, DNA-Analysen ohne Beschränkung auf bestimmte schwerere Straftaten zu speichern. Die Frage, für wie viele Monate oder Jahre in Litauen die von der EU durchgesetzte Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten vorgesehen sei, konnte nicht beantwortet werden. In der BRD hat bekanntlich der Bundestag zunächst einstimmig jede Vorratsdatenspeicherung abgelehnt. Mittlerweile ist die Bundesregierung eingeknickt und hat einer EU-Richtlinie zugestimmt, wonach die Verbindungsdaten von allen Telefonaten und E-Mails mindestens sechs Monate lang für polizeiliche Zwecke vorgehalten werden müssen – ein Eingriff in die Privatsphäre von zig Millionen unverdächtiger Bürgerinnen und Bürger. Offenbar gibt es in Litauen dazu keinerlei kritische Debatte. Wenigstens überlegt das Parlament in Vilnius, künftig die Verfassungsbeschwerde einzuführen. Bisher existiert zwar ein Verfassungsgericht, das aber noch nicht dafür zuständig ist, über Verfassungsklagen einzelner Bürger zu entscheiden. Mit der Einführung der Verfassungsbeschwerde gäbe es künftig wenigstens ein Instrument für einen stärkeren Schutz der Bürgerrechte.
Das ist auch dringend erforderlich, denn es gibt überall ausufernde Kontrollmethoden wie etwa die Videoüberwachung oder die heute schon stattfindende Einspeisung von Daten ins Schengener Informationssystem (SIS), die europaweit von allen Polizeibehörden und Geheimdiensten abfragbar sind. Dagegen wird der Datenschutz stiefmütterlich behandelt. Nirgendwo in den baltischen Staaten gibt es Datenschutzbeauftragte.
Die Orientierung auf den Westen kostet die baltischen Staaten viel Geld. Ein Beispiel ist die Unterstützung der aggressiven NATO-Politik. Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, erhalten einen Betrag von umgerechnet 5000 Dollar pro Einsatz, ein für das Baltikum extrem guter Verdienst. Das Geld dafür ist da – schließlich haben die baltischen Staaten großes Interesse daran, sich den USA als »Waffenbrüder« anzudienen. Zum anderen streben Litauen, Lettland und Estland die Aufnahme in den Schengen-Verbund an. Das bedeutet zwar Reisefreiheit innerhalb der Schengen-Länder der EU, aber zugleich die Übernahme der Grenzsicherung nach außen. Die Kosten für den technischen und personellen Aufwand der Grenzpolizei sind trotz EU-Mitfinanzierung enorm und dürften die Haushaltskapazitäten der baltischen Staaten übersteigen. Dennoch tun diese alles, um die Kriterien zu erfüllen und sich als zuverlässige Hüter der »Festung Europa« zu empfehlen. Erst im September gab es die letzten Evaluierungen durch die EU. Da sie im Sinne der Abschottung der Grenzen »positiv« ausfielen, soll schon ab Anfang 2009 die EU-Außengrenze weiter nach Osten verschoben werden. Die baltischen Staaten werden also demnächst als neue Schengen-Mitglieder die Einreise aus den Nachbarländern Ukraine und Belarus kontrolieren sowie die Grenzen zur russischen Enklave Kaliningrad im Westen und zu Rußland im Osten hermetisch abriegeln.

Politiker im Griff der Oligarchen

Ein Parteiensystem nach dem herkömmlichen Rechts-Links-Schema hat sich in den baltischen Staaten nicht entwickelt. Dies wird in einem vom in Riga lebenden deutschen Politikwissenschaftler Axel Reetz herausgegebenen Sammelband »Aktuelle Probleme postsozialistischer Länder –Das Beispiel Lettland« instruktiv beschrieben. Die Regierungen sind nach den üblichen Koordinaten bestenfalls Mitte-Rechts einzuordnen, also als liberal-konservativ, richtiger aber wohl als eindeutig nationalistisch. In Lettland ist nicht einmal die Sozialdemokratie im Parlament vertreten (wohl aber in Estland). Der Umgang mit Minderheiten läßt zu wünschen übrig, Homosexuelle sind weiterhin diskriminiert. In Lettland stellen die Grünen zwar in einer Allianz mit der Bauernpartei derzeit eine der Regierungsfraktionen, sie sind aber nicht dem ökologischen, sondern eher dem konservativen Spektrum zuzuordnen. Als links gilt die aus der Volksfront hervorgegangene »Partei der Volksharmonie« des ersten Außenministers Janis Jurkans, die bis 2004 auch eine Fraktionsgemeinschaft mit der Sozialistischen Partei (LSP) pflegte.
Den meisten Einfluß auf die Politik üben sogenannte »Oligarchen« aus. Diese reiche Oberschicht finanziert die herrschenden Parteien und Politiker. Einer der wichtigsten Oligarchen, Aigars Lembergs, Bürgermeister der lettischen Hafenstadt Ventspils, wurde im März 2007 wegen des Vorwurfs der Bestechung verhaftet. Er ist finanzieller Unterstützer des Bündnisses der »Grünen und Bauern«. Mittlerweile ist eine Debatte um die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung in Gang gekommen, um so die Abhängigkeit von privaten Geldgebern zu mindern. Ein Gesetzentwurf zur verstärkten Kontrolle der Geheimdienste der Polizei und der Korruption wurde von der damaligen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga gestoppt, weil sie befürchtete, daß die Oligarchen ihre eigenen Leute in den Kontrollgremien plazieren würden.
Als Besucher des Baltikums darf man sich nicht durch die herrlichen Altstadtbauten in den touristisch sehenswerten Metropolen Vilnius, Riga und Tallinn darüber täuschen lassen, daß dieser neue Glanz durch das kärgliche Leben Zigtausender in den Plattenbauten am Stadtrand erkauft wird. Die Privatisierungspolitik führt wie überall auf der Welt zu krassen sozialen Gegensätzen. Dies wird am Beispiel der Wohnungsbaupolitik offenkundig: Als die baltischen Staaten noch zur Sowjetunion gehörten, gab es ein Recht auf Wohnung und einen wirksamen Kündigungsschutz. Heute können die Immobilienspekulanten ärmere Mieter aus den privatisierten Wohnungen vertreiben und auf die Straße setzen, ohne daß die sozial Schwächeren rechtlich geschützt wären. Da die Durchschnittseinkommen nach wie vor niedrig sind, betrifft diese prekäre Wohnsituation weite Teile der Bevölkerung.
Der Beitritt zur EU hat Hoffnungen geweckt, die so schnell nicht erfüllbar sind. Die Abwendung von der Sowjetunion hat in den baltischen Staaten nicht zu einer bürgerlichen politischen Kultur im liberalen Sinn geführt, geschweige denn zu einer Lösung sozialer Probleme. Sobald sich – und das ist aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsform unausweichlich – die sozialen Spannungen weiter zuspitzen, wird sich der Nationalismus noch verschärfen. Allerdings wäre es falsch, das Baltikum als politische Einheit zu verstehen: Auch untereinander haben Litauen, Lettland und Estland nationalistische Vorbehalte – jeder dieser Staaten verfolgt seine eigenen Interessen. Die EU wirkt dem keineswegs entgegen, sie sieht in diesen Staaten lediglich die Lieferanten billiger Arbeitskräfte und treue Verbündete des US-amerikanischen Imperialismus.

Ulla Jelpke ist Mitglied der Bundestagsfraktion von »Die Linke« und deren innenpolitische Sprecherin

zuerst erschienen in: junge Welt, 17.10.2007