Artikel: Verfassung im Notstand

Jung hatte am Wochenende angekündigt, Zivilflugzeuge, mit denen Terroranschläge verübt werden sollten, abschießen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Abschußermächtigung im Luftsicherheitsgesetz aber im Februar 2006 verworfen. Die Karlsruher Richter erklärten es für »schlechthin undenkbar«, daß der Staat unschuldige Passagiere und Besatzungsmitglieder töten könne. Darüber will sich Jung unter Berufung auf einen »übergesetzlichen Notstand« hinwegsetzen. »Wenn es gemeine Gefahr ist«, dann gälten »andere Regeln«, behauptete er.

Damit stieß er gestern auf breite Kritik. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch erklärte: »Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, daß ein Minister offen erklärt, er werde eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mißachten und ein Verbrechen anordnen, wenn er es für richtig hält.« Der Rechtspolitiker der Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Neskovic, wies darauf hin, der Abschuß eines Passagierflugzeugs erfülle »das Mordmerkmal der Tötung«. Jung mache sich mit solchen Äußerungen untragbar. SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz sprach von einem »Aufruf zum Verfassungsbruch«.

Den Widerstand aus der Truppe will Jung offenbar umgehen, indem er die Kampfflugzeuge mit handverlesenen Piloten besetzt. Er habe, so Jung im Focus, schon vor der Fußball-WM 2006 festgelegt, »daß nur diejenigen Piloten fliegen sollten, die auch vor dem Hintergrund dieser schwierigen rechtlichen Frage dazu bereit wären, diesen Befehl auszuführen.«

Auch Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) stieß gestern auf Widerstand, nachdem er am Wochenende vor einem Anschlag »mit nuklearem Material« gewarnt hatte. »Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, daß es nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag kommt, nicht mehr, ob.« Konkrete Belege nannte er wie üblich nicht. SPD-Fraktionschef Peter Struck warf Schäuble »Panikmache« vor.

Die Linksfraktion hat unterdessen beantragt, Schäuble solle vor dem Innenausschuß aussagen. »Falls er nicht über gesichertes Wissen verfügt, sollte er besser schweigen«, hieß es in einer Presseerklärung. Sowohl er als auch Jung wollten offensichtlich mit Panikmache die Stimmung für weitere Gesetzesverschärfungen anheizen und zugleich Grundrechte wie die Unschuldsvermutung aushebeln.

Zuerst erschienen in: junge Welt, 19.09.2007